Ein komplexer neurologischer Fall bei einem immungeschwächten Patienten: Von Lymphom bis zur Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). A19

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Bei diesem Fall handelt es sich um einen 69-jährigen immungeschwächten Mann mit Lymphom in der Vorgeschichte. Nach einem Segelunfall und Zeckenexposition entwickelte er rasch fortschreitende neurologische Symptome wie Kopfschmerzen, Koordinationsstörungen und Schwäche. Trotz umfangreicher Untersuchungen auf ein Krebsrezidiv und andere Infektionen ergab die Diagnostik schließlich eine Enzephalitis durch das Powassan-Virus – eine seltene, durch Zecken übertragene Erkrankung, die insbesondere immungeschwächte Patienten in Neuengland und der oberen Mittleren Westregion betrifft.

Ein komplexer neurologischer Fall bei einem immungeschwächten Patienten: Von Lymphom bis Frühsommer-Meningoenzephalitis

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Relevanz des Falls

Diese Fallstudie verdeutlicht die diagnostischen Herausforderungen bei neurologischen Symptomen immungeschwächter Patienten. Der Fall kombiniert eine Lymphom-Vorgeschichte, anhaltende Immunsuppression und relevante Umweltfaktoren zu einem komplexen Krankheitsbild.

Bei Immunsupprimierten können selbst seltene Infektionen schwer verlaufen und erfordern spezielle Diagnostik. Dieser Fall zeigt, wie zeckenübertragene Erkrankungen mit neurologischen Komplikationen einhergehen können und wie wichtig eine gründliche Abklärung bei komplexer Vorgeschichte ist.

Anamnese und Hintergrund

Ein 69-jähriger Patient mit relevanter Vorerkrankung: Vor drei Jahren Diagnose eines diffus großzelligen B-Zell-Lymphoms (DLBCL), behandelt mit Bendamustin und Rituximab.

Ein Jahr später ZNS-Rezidiv mit Epstein-Barr-Virus-Assoziation. Therapie mit hochdosiertem Methotrexat, CAR-T-Zell-Therapie (Tisagenlecleucel) und Ibrutinib.

Weitere Erkrankungen:

  • Hypertonie
  • Dyslipidämie
  • Nicht-ischämische Kardiomyopathie
  • Harnverhalt
  • Mesenterialvenenthrombose
  • Hypogammaglobulinämie
  • ADHS
  • Affektive Störung

Medikation: Aciclovir, Apixaban, Atorvastatin, Dextroamphetamin-Amphetamin, Empagliflozin, Fluconazol, Metoprolol, Sacubitril/Valsartan, Cotrimoxazol, Tamsulosin, Venlafaxin; zusätzlich Immunglobulin-Infusionen.

Symptome und Erstvorstellung

Zwei Wochen vor Aufnahme Sturz beim Segeln mit Rückenprellung. Anschließend:

  • Mittlere Rückenschmerzen
  • Zunehmende Schwäche und Koordinationsstörungen der Hände
  • Eingeschränkte Selbstversorgung
  • Kopfschmerzen

Befunde bei Aufnahme:

  • Vitalzeichen stabil
  • Leise, verlangsamte Sprache
  • Endstellnystagmus
  • Beinmuskelzuckungen
  • Erhöhter Muskeltonus rechts
  • Schwäche der Fingerabduktion
  • Ataxie
  • Hyperreflexie

Im Verlauf Verschlechterung mit Lethargie, Rumpfataxie, beidseitiger Abduzensparese und Schluckstörungen.

Diagnostische Untersuchungen

Blutbild: Leukozyten 4860/μl, Lymphozyten 260/μl (deutliche Lymphopenie).

Bildgebung:

  • CT: Postoperative Veränderungen, kalzifizierte Läsion
  • CT-Angiographie: Rippenfrakturen
  • MRT: Signalveränderungen Kleinhirn und Hirnstamm

Liquor:

  • 21 Zellen/μl (77% Lymphozyten)
  • Erhöhtes Protein (74 mg/dl)
  • Keine monoklonale B-Zell-Population

Neurophysiologie: Hinweise auf neurogenen Prozess mit multiplen Wurzelbeteiligungen.

Differenzialdiagnose

Drei Hauptkategorien wurden erwogen:

Immunvermittelt: Autoimmun-Erkrankungen, aber bei gestörter Immunität unwahrscheinlich.

Rezidiv: ZNS-Lymphom, aber untypische Bildgebung und Zytologie.

Infektiös:

  • Pilze (unter Fluconazol unwahrscheinlich)
  • Bakterien (Lyme negativ, Listeriose untypisch)
  • Viren (JC, West-Nil, Herpes)
  • Zecken (Powassan-Virus)

Kombination aus Exposition, rascher Verschlechterung und Befunden sprach für Powassan-Virus.

Diagnose und Bestätigung

Powassan-Virus-Enzephalitis als wahrscheinlichste Diagnose aufgrund:

  • Zeckenexposition
  • Rasche neurologische Verschlechterung
  • Kleinhirnsymptomatik
  • Hirnnervenausfälle
  • Liquorbefund
  • MRT-Veränderungen
  • Fehlendes Ansprechen auf Antibiose

Bestätigung durch PCR aus Liquor.

Klinische Bedeutung

Wichtige Implikationen für immungeschwächte Patienten:

Erhöhtes Risiko für schwere Verläufe selbst seltener Infektionen. Spezielle Diagnostik erforderlich, die über Standard-Panels hinausgeht. Bei Lymphom-Patienten mit neurologischen Symptomen Abwägung zwischen Rezidiv und Infektion nötig.

Einschränkungen

Diagnostik durch spezialisierte Tests, nicht überall verfügbar. Bei Immunsupprimierten können serologische Tests unzuverlässig sein. Komplexe Vorgeschichte und Medikation erschwerten die Zuordnung.

Empfehlungen für Patienten

  1. Zeckenschutz: Repellents, Schutzbekleidung, Kontrollen nach Aufenthalt im Freien
  2. Expositionsmeldung: Zeckenstiche und neurologische Symptome umgehend mitteilen
  3. Frühzeitige Vorstellung: Bei Kopfschmerzen, Ataxie oder Schwäche
  4. Vollständige Anamnese: Alle Medikamente und Vorerkrankungen angeben
  5. Spezialdiagnostik: Bewusstsein für ergänzende Tests

Regelmäßige Abstimmung mit Onkologie und Infektiologie empfohlen.

Quellen

Titel: Fall 19-2025: Ein 69-jähriger Mann mit Kopfschmerzen und Ataxie

Autoren: Arun Venkatesan, Javier M. Romero, G. Kyle Harrold, Erik H. Klontz

Veröffentlichung: NEJM 2025;393:176-84

DOI: 10.1056/NEJMcpc2412528

Patientenfreundliche Darstellung basierend auf einem Fallbericht des Massachusetts General Hospital.