Dieser Fall schildert einen 70-jährigen Mann mit einer komplexen Krankengeschichte, der unter starkem Gewichtsverlust, Erschöpfung und neurologischen Symptomen litt. Nach umfangreichen Untersuchungen diagnostizierten die Ärzte eine Pilzinfektion des Gehirns (Kryptokokkenmeningitis), die durch eine zugrundeliegende Hormonstörung (Cushing-Syndrom) ausgelöst wurde. Der Fall verdeutlicht, wie mehrere Erkrankungen zusammenspielen können und wie Ärzte systematische Ansätze nutzen, um komplexe diagnostische Rätsel zu lösen.
Ein komplexer medizinischer Fall: Ungeklärter Gewichtsverlust und neurologische Symptome
Inhaltsverzeichnis
- Fallvorstellung
- Medizinische Anamnese und Medikation
- Befunde der körperlichen Untersuchung
- Laboruntersuchungsergebnisse
- Bildgebende Verfahren
- Diagnostischer Prozess
- Enddiagnose
- Klinische Implikationen
- Einschränkungen
- Patientenempfehlungen
- Quelleninformation
Fallvorstellung
Ein 70-jähriger Mann stellte sich in der Notaufnahme mit seit sechs Wochen bestehenden, besorgniserregenden Symptomen vor. Er litt unter vollständigem Appetitverlust (Anorexie), ausgeprägter Schwäche und ungewolltem Gewichtsverlust. Sein Psychiater hatte zunächst das Antidepressivum Bupropion aufgrund zunehmender Erschöpfung erhöht. Als sich die Symptome jedoch verschlechterten, wurde die Dosis reduziert und schließlich abgesetzt.
Acht Tage vor der aktuellen Aufnahme war der Patient bereits mit Muskelschwäche, Kopfschmerzen und anhaltendem Appetitverlust in derselben Notaufnahme gewesen. Damals zeigten bildgebende Verfahren Auffälligkeiten, die weitere Abklärungen erforderlich machten.
Trotz Behandlung mit Medikamenten gegen Übelkeit und Kopfschmerzen verschlechterte sich sein Zustand weiter. Eine Woche später kehrte er mit schwerer Erschöpfung, Geschmacksstörungen (Dysgeusie) und einem berichteten Gewichtsverlust von 13,6 kg (etwa 30 Pfund) innerhalb der letzten sechs Wochen zurück.
Medizinische Anamnese und Medikation
Der Patient hatte mehrere relevante Vorerkrankungen. Eine Haarzellleukämie war seit sieben Jahren in Remission. Zudem bestand eine majore depressive Störung, die mehrere stationäre psychiatrische Behandlungen, einschließlich Elektrokrampftherapie und einer Vagusnervstimulation, erforderlich gemacht hatte.
Weitere Diagnosen waren Adipositas (mit Magenbypass behandelt), Bluthochdruck (Hypertonie) und eine vergrößerte Prostata (benigne Prostatahyperplasie). Seine Medikation umfasste Bupropion, Escitalopram, Gabapentin, Risperidon, Tamsulosin und Lisinopril.
Der Patient lebte allein in einer städtischen Umgebung und war aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands überwiegend ans Haus gebunden, wobei er Hilfe bei Alltagsaktivitäten benötigte. Er war Nichtraucher, abstinent, konsumierte keine Drogen und hatte weder kürzliche Reisen noch Kontakt zu erkrankten Personen.
Befunde der körperlichen Untersuchung
Bei der Untersuchung zeigten sich mehrere Auffälligkeiten. Die Temperatur war mit 36,3°C normal, jedoch bestanden ein erhöhter Blutdruck (136/81 mm Hg), eine Tachykardie (100 Schläge/Minute) und eine beschleunigte Atmung (24 Atemzüge/Minute) bei normaler Sauerstoffsättigung.
Auffällig waren verstreute Hämatome und dünne Haut, jedoch kein Exanthem oder Petechien. Der Patient war wach und konnte geistige Aufgaben wie das Rückwärtsaufzählen der Wochentage problemlos bewältigen.
Laboruntersuchungsergebnisse
Die Blutuntersuchungen ergaben mehrere signifikante Abweichungen: erniedrigtes Kalium (3,1 mmol/L; Norm: 3,4–5,0), erhöhter Blutzucker (225 mg/dL; Norm: 70–110), Thrombozytopenie (91.000/µL; Norm: 150.000–400.000) als Folge der Krebstherapie und Lymphopenie (570/µL; Norm: 1000–4800).
Weitere Befunde umfassten erniedrigtes Bikarbonat (16 mmol/L; Norm: 23–32), erhöhtes Harnstoff-Stickstoff (28 mg/dL; Norm: 8–25) und eine respiratorische Alkalose in der Blutgasanalyse (pH 7,48 bei erniedrigtem pCO₂). Der HbA1c-Wert betrug 7,2 % gegenüber 6,2 % im Vorjahr.
Tests auf HIV, Syphilis, Hepatitis B und C waren negativ. Vitamin B12, Kupfer und Schilddrüsenparameter lagen im Normbereich.
Bildgebende Verfahren
CT-Untersuchungen von Abdomen und Becken zeigten einen 1,9 cm großen Knoten der linken Nebenniere. Die Läsion war indeterminiert, sodass ihre Dignität bildgebend nicht beurteilt werden konnte.
Initiale Kopf-Hals-CTs waren unauffällig. Bei Wiederholung nach fünf Tagen zeigten sich jedoch neue hypodense Areale im rechten Nucleus caudatus, im vorderen Anteil der Capsula interna und im linken lateralen Thalamus, die auf lakunäre Infarkte hindeuteten.
Diagnostischer Prozess
Das Behandlungsteam wandte eine systematische „Jigsaw-Heuristik“ an. Nach Sichtung aller Informationen identifizierten sie Schlüsselzeitpunkte und Abgrenzungen des Problems.
Mehrere Faktoren wiesen auf ein Cushing-Syndrom (Hyperkortisolismus) hin: Erschöpfung, Hypertonie, Hautveränderungen, Hypokaliämie und Hyperglykämie. Typische Merkmale wie Gewichtszunahme oder Vollmondgesicht fehlten jedoch.
Entscheidend waren die Liquorbefunde: Pleozytose (67 Zellen/µL; Norm: 0–5), erniedrigte Glukose (2 mg/dL; Norm: 50–75), erhöhtes Protein (92 mg/dL; Norm: 5–55) und stark erhöhter Öffnungsdruck (≥58 cm H₂O). Diese Konstellation sprach für eine Meningoenzephalitis, wahrscheinlich pilzbedingt.
Das Team erkannte, dass das Cushing-Syndrom immunsupprimierend wirkt und opportunistische Infektionen wie eine Pilzmeningitis begünstigt. Die Kombination aus hormonellem Ungleichgewicht und Immunsuppression schuf ideale Bedingungen für eine schwere Infektion.
Enddiagnose
Die Diagnose lautete: Kryptokokkenmeningitis durch Cryptococcus neoformans bei unerkanntem Cushing-Syndrom. Blutkulturen bestätigten das Hefewachstum.
Das Cushing-Syndrom erklärte die initialen Symptome wie Hautverdünnung, Hämatome, Hypertonie, Hypokaliämie und Hyperglykämie. Der Nebennierenknoten war wahrscheinlich die Ursache der überschüssigen Cortisolproduktion.
Die Kryptokokkenmeningitis verursachte die neurologische Verschlechterung, Kopfschmerzen und die Liquorveränderungen. Die immunsuppressive Wirkung des überschüssigen Cortisols begünstigte die opportunistische Infektion.
Klinische Implikationen
Dieser Fall verdeutlicht mehrere klinisch relevante Aspekte: Hormonelle Störungen wie das Cushing-Syndrom können systemische Auswirkungen haben, einschließlich Immunsuppression und erhöhter Infektanfälligkeit.
Ungewollter Gewichtsverlust kann auf ernste Grunderkrankungen hinweisen. Der Verlust von 13,6 kg in sechs Wochen war ein entscheidendes Warnzeichen.
Patienten mit komplexen Krankengeschichten benötigen eine interdisziplinäre Betreuung. Die Kombination aus onkologischer, psychiatrischer und chirurgischer Vorgeschichte erschwerte die Diagnostik.
Seltene, aber schwerwiegende Infektionen sollten bei unklaren neurologischen Symptomen und Immunsuppression in Betracht gezogen werden.
Einschränkungen
Als Einzelfallstudie ist die Übertragbarkeit eingeschränkt. Die Diagnosestellung war zeitaufwendig, und der Zustand des Patienten verschlechterte sich erheblich.
Der Vagusnervstimulator verhinderte MRT-Untersuchungen, die früher im Prozess hätten helfen können. Multiple Erkrankungen und Medikamente erschwerten die Isolierung einzelner Faktoren.
Langzeitverlauf und Ansprechen auf die Therapie sind nicht dokumentiert.
Patientenempfehlungen
Bei ungewolltem Gewichtsverlust (insbesondere mehr als 4,5 kg ohne erkennbare Ursache), anhaltender Erschöpfung oder mentalen Veränderungen sollte umgehend ärztliche Hilfe gesucht werden.
Patienten mit komplexer Krankengeschichte sollten sicherstellen, dass alle behandelnden Ärzte über alle Erkrankungen und Medikamente informiert sind. Besonders betrifft dies Personen mit:
- Onkologischer Vorgeschichte
- Psychischen Erkrankungen
- Adipositaschirurgie
- Multimorbidität
Bei Immunsuppression sind Symptome wie anhaltende Kopfschmerzen, Fieber oder Bewusstseinsveränderungen ernst zu nehmen. Nicht alle Beschwerden sind auf bekannte Erkrankungen oder Medikamente zurückzuführen.
Bei persistierenden oder unklaren Symptomen sollte eine gründliche Abklärung erfolgen. Komplexe Fälle erfordern oft mehrere Untersuchungen und interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Quelleninformation
Originalartikeltitel: Fall 13-2025: Ein 70-jähriger Mann mit Gewichtsverlust, Schwäche und Anorexie
Autoren: Matthew G. Gartland, Anthony R. Russo, Samuel C.D. Cartmell, John S. Albin, Daniel Restrepo
Publikation: The New England Journal of Medicine, 8. Mai 2025
DOI: 10.1056/NEJMcpc2412518
Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf einem peer-reviewten Fallbericht aus der Serie "Case Records of the Massachusetts General Hospital".