Dieser umfassende Übersichtsartikel erläutert, dass Wirbelsäulenmetastasen häufige Komplikationen bei Krebserkrankungen darstellen und einen ganzheitlichen, multidisziplinären Behandlungsansatz erfordern. Forschende betonen, dass eine korrekte Diagnose spezialisierte Bildgebung und Bewertungsskalen umfasst, während die Behandlung chirurgische Dekompression, Wirbelsäulenstabilisierung und zielgerichtete Therapien wie stereotaktische Radiochirurgie kombiniert. Der Artikel bietet detaillierte Informationen zu verschiedenen Scoring-Systemen, die Ärztinnen und Ärzten dabei helfen, den optimalen Behandlungsansatz basierend auf individuellen Patientenfaktoren wie Tumortyp, neurologischem Status und Allgemeingesundheit zu bestimmen.
Umfassender Patientenleitfaden zur Diagnose und Behandlung von Wirbelsäulenmetastasen
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Was sind Wirbelsäulenmetastasen?
- Symptome und klinisches Bild
- Bewertungsskalen und Entscheidungshilfen
- Diagnostische Bildgebung
- Behandlungsstrategien
- Klinische Bedeutung für Patienten
- Studieneinschränkungen
- Empfehlungen für Patienten
- Quellen
Einleitung: Was sind Wirbelsäulenmetastasen?
Wirbelsäulenmetastasen treten deutlich häufiger auf als primäre Wirbelsäulentumoren und betreffen viele Krebspatienten. Studien zufolge entwickeln etwa 6,9–8,6 % der Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung Knochenmetastasen. Das Skelett ist nach Lunge und Leber die dritthäufigste Stelle für Krebsabsiedelungen.
Obwohl Knochenmetastasen meist auf ein fortgeschrittenes Krebsstadium hindeuten, können sie manchmal auch das erste Anzeichen einer Krebserkrankung sein. Im Durchschnitt vergehen 18,9 Monate zwischen der Diagnose des Primärtumors und dem Auftreten von Metastasen – abhängig von der Krebsart. So treten Metastasen bei Lungenkrebs bereits nach etwa 9 Monaten auf, bei Brust- und Prostatakrebs hingegen später (14,9 bzw. 17,4 Monate).
Die Wirbelsäule ist der häufigste Ort für Knochenmetastasen. Autopsiestudien zeigen, dass 30–70 % der Krebspatienten Wirbelsäulenmetastasen aufweisen. Zu den häufigsten Ausgangstumoren zählen:
- Brustkrebs
- Prostatakrebs
- Nierenkrebs
- Lungenkrebs
- Multiples Myelom
- Schilddrüsenkrebs
Rund 18 % der Patienten haben Metastasen in mehr als einem Wirbelsäulenabschnitt. Bestimmte Krebsarten befallen bevorzugt bestimmte Bereiche: Lungen- und Brustkrebs metastasieren oft in die Brustwirbelsäule, während Prostata- und Darmkrebs häufiger die Lendenwirbelsäule betreffen.
Symptome und klinisches Bild
Schmerzen sind das häufigste Frühsymptom bei Wirbelsäulenmetastasen und treten bei über 90 % der Patienten auf. Man unterscheidet drei Hauptarten:
Radikuläre Schmerzen entstehen durch Druck des Tumors auf Spinalnervenwurzeln. Sie sind stechend, durchdringend und strahlen in bestimmte Hautareale (Dermatome) aus. Oft bessern sie sich bei Lageveränderungen.
Knochenschmerzen werden durch Dehnung der Knochenhaut, erhöhten Druck im Knochen oder Entzündungsreaktionen verursacht. Sie treten typischerweise morgens und abends auf, sind lokal begrenzt und verstärken sich bei Bewegung.
Mechanische Schmerzen resultieren aus Schäden an der Wirbelsäule, die deren Stabilität beeinträchtigen und die Belastbarkeit verringern.
Im weiteren Verlauf können Schwäche in den Gliedmaßen (Parese), Gefühlsstörungen unterhalb der Schädigungshöhe sowie Blasen- oder Darmfunktionsstörungen auftreten. Zudem kann es zu chronischer oder akuter spinaler Ischämie (verminderte Durchblutung) kommen.
Bewertungsskalen und Entscheidungshilfen
Für die Therapieentscheidung werden verschiedene Bewertungsskalen herangezogen, die multiple Patientenmerkmale berücksichtigen. Diese Instrumente helfen Ärzten, den besten Behandlungsansatz zu finden.
Die Karnofsky-Skala bewertet den Allgemeinzustand auf einer Skala von 0–100, wobei 100 für volle Gesundheit und 0 für den Tod steht. Höhere Werte deuten auf eine bessere Lebensqualität hin.
Die ASA-Physical-Status-Klassifikation stuft das operative Risiko auf einer Sechs-Punkte-Skala ein. Patienten der Grade IV–VI kommen meist nicht für eine Wirbelsäulenoperation infrage.
Neurologische Bewertungsskalen wie die Frankel-Skala und die ASIA Impairment Scale (AIS) erfassen die Nervenfunktion. Patienten der Frankel-Gruppen A und B erlangen selten die Gehfähigkeit zurück, während Gruppen C und D oft von neurologischen Verbesserungen profitieren.
Die Visuelle Analogskala (VAS) misst die Schmerzintensität von 0 (keine Schmerzen) bis 10 (unerträgliche Schmerzen).
Spinal Instability Neoplastic Score (SINS) identifiziert Patienten, die von einer Operation profitieren könnten. Die Skala berücksichtigt sechs Kriterien: Lage der Metastase, mechanische Schmerzen, Art der Knochenläsion, Wirbelsäulenfehlstellung, Wirbelkörperfrakturen und Beteiligung der Hinterelemente. Werte von 0–6 deuten auf Stabilität hin (OP nur bei Kompression), 7–12 auf drohende und 13–18 auf bestehende Instabilität, die operativ versorgt werden sollte.
Weitere wichtige Instrumente sind:
- De-Wald-Score – Stadieneinteilung des Krebsfortschritts (I–V)
- Tomita-Klassifikation – Beurteilung des Metastasenumfangs im MRT
- Harrington-Skala – Fünf-Stufen-System für Knochenveränderungen
- Epidural Spinal Cord Compression Scale (ESCC) – Grad der Rückenmarkskompression
- Tokuhashi-Skala – Prognose der Überlebenszeit und Therapieentscheidung
Diese Skalen helfen, individuelle Therapiepläne basierend auf Krebsart, Metastasenumfang, neurologischem Status und Allgemeinzustand zu erstellen.
Diagnostische Bildgebung
Für eine genaue Diagnose sind moderne Bildgebungsverfahren unerlässlich, um Wirbelsäulenmetastasen zu erkennen und die Behandlung zu planen.
Röntgenaufnahmen können Wirbelschäden wie Frakturen, Luxationen und Kollapse zeigen. Allerdings sind Veränderungen erst sichtbar, wenn 50–75 % des Knochens zerstört sind. Das „winking owl sign“ in der Übersichtsaufnahme weist auf Schäden hin. Röntgen bleibt dennoch wichtig zur Verlaufskontrolle und Frakturrisikobewertung.
Magnetresonanztomographie (MRT) ist die Methode der Wahl bei Verdacht auf Wirbelsäulenmetastasen. Sie bildet den Wassergehalt im Knochenmark ab und unterscheidet so altersbedingte Veränderungen von Krebsbefall. Da sich die Knochenmarkzusammensetzung mit dem Alter ändert (von 40 % Fett bei Geburt auf 80 % im Erwachsenenalter), ist die MRT hier besonders aussagekräftig.
Bei osteoblastischen Metastasen (knochenbildend) steigt der Wassergehalt, sodass diese Areale in T1-gewichteten Aufnahmen isointens oder hypointens im Vergleich zu Muskeln oder Bandscheiben erscheinen.
Behandlungsstrategien
Die Behandlung von Wirbelsäulenmetastasen erfordert einen multidisziplinären Ansatz. Hauptziele sind die Entlastung des Rückenmarks, Schmerzlinderung, Erhalt der neurologischen Funktion und Stabilisierung der Wirbelsäule.
Eine Operation sollte drei Kriterien erfüllen: Befreiung von Rückenmark und Nervenwurzeln, Wiederherstellung der Anatomie und sichere Stabilisierung. Ein erfolgreicher Eingriff ermöglicht oft weitere Therapien wie Strahlen-, Chemo-, Hormon- oder zielgerichtete Behandlung.
Stereotaktische Radiochirurgie (SRS) und stereotaktische Körperstrahlentherapie (SBRT) sind präzisere und wirksamere Verfahren als die konventionelle Strahlentherapie. Sie ermöglichen höhere Strahlendosen am Tumor bei Schonung des umliegenden Gewebes.
Behandlungsalgorithmen wie NOMS berücksichtigen vier Faktoren: neurologischer Status (Myelopathie und Kompressionsgrad), onkologische Faktoren (Strahlensensitivität), mechanische Stabilität und allgemeiner Patientenzustand.
Klinische Bedeutung für Patienten
Die Behandlung von Wirbelsäulenmetastasen erfordert individuelle Ansätze. Verschiedene Bewertungssysteme helfen, die Überlebenszeit abzuschätzen und zwischen aggressiver Operation, palliativer Versorgung oder nicht-operativen Methoden zu entscheiden.
Patienten mit besseren Skalenwerten (z. B. Karnofsky über 70, Tokuhashi 12–15) haben meist eine prognostizierte Überlebenszeit von über 12 Monaten und kommen für radikale Operationen infrage. Bei mittleren Werten (9–11) wird oft palliativ operiert, bei niedrigsten Werten (0–8) erfolgt meist nur konservative oder palliative Behandlung.
Operationen verfolgen drei Ziele: Entlastung neuraler Strukturen, Wiederherstellung der Wirbelsäulenstellung und mechanische Stabilisierung. Eine erfolgreiche Behandlung verbessert die Lebensqualität und ermöglicht weitere Krebstherapien.
Studieneinschränkungen
Obwohl dieser Überblick aktuelles Wissen zusammenfasst, sind einige Einschränkungen zu beachten. Einige Bewertungsskalen stammen aus früheren Jahren und berücksichtigen nicht alle modernen Therapieoptionen. Jeder Patient hat eine einzigartige Krankengeschichte und Konstitution, die standardisierte Skalen nicht vollständig erfassen können.
Kein Bewertungssystem ist für alle Patienten ideal. Aufgrund der Komplexität von Wirbelsäulenmetastasen müssen Therapieentscheidungen individuell und unter Berücksichtigung multiple Faktoren getroffen werden. Zudem könnten neue Behandlungen und Technologien künftige Empfehlungen verändern.
Empfehlungen für Patienten
Patienten mit Wirbelsäulenmetastasen sollten:
- Eine umfassende Untersuchung in einem Zentrum mit spinal-onkologischer Expertise anstreben
- Die Bewertungsskalen verstehen, die zur Therapieentscheidung herangezogen werden
- Alle Optionen besprechen, einschließlich Operation, Stabilisierung, Radiochirurgie und Bestrahlung
- Bei komplexen Entscheidungen Zweitmeinungen von verschiedenen Fachärzten einholen
- Die Lebensqualität bei der Therapiewahl im Blick behalten
- Nach klinischen Studien zu neuen Behandlungsansätzen fragen
- Realistische Erwartungen basierend auf der individuellen Prognose haben
Eine frühe Intervention ist entscheidend für den Erhalt der neurologischen Funktion. Patienten mit Rückenschmerzen – besonders mit Krebsvorgeschichte – sollten sich daher zeitnah untersuchen lassen, um Wirbelsäulenmetastasen früh zu erkennen.
Quellen
Originaltitel: Holistic Approach to the Diagnosis and Treatment of Patients with Tumor Metastases to the Spine
Autoren: Hanna Nowak, Dominika Maria Szwacka, Monika Pater, Wojciech Krzysztof Mrugalski, Michał Grzegorz Milczarek, Magdalena Staniszewska, Roman Jankowski, Anna-Maria Barciszewska
Veröffentlichung: Cancers 2022, 14(14), 3480
Hinweis: Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf peer-reviewter Forschung und bewahrt alle originalen Daten, Statistiken und klinischen Befunde der wissenschaftlichen Publikation.