Diese Fallstudie beschreibt einen 27-jährigen Mann mit plötzlich auftretender Beinschwäche und ausgeprägter Hypokaliämie. Nach Kaliumsubstitution besserte sich die Muskelschwäche rasch. Weitere Untersuchungen ergaben eine thyreotoxische periodische Paralyse als Ursache – eine Erkrankung, bei der eine Schilddrüsenüberfunktion zu Kaliumverschiebungen in die Zellen und damit zu Muskellähmungen führt. Der Fall zeigt, wie scheinbar unzusammenhängende Symptome wie Gewichtsverlust, Tremor und Schlaflosigkeit auf eine zugrundeliegende Schilddrüsenerkrankung hinweisen können.
Plötzliche Lähmung bei einem Bauarbeiter: Schilddrüsenbedingte Muskelschwäche verstehen
Inhaltsverzeichnis
- Fallvorstellung: Der 27-jährige Mann
- Erste Untersuchungsbefunde
- Laborergebnisse
- Differentialdiagnose verstehen
- Wie der Körper Kalium reguliert
- Die richtige Diagnose stellen
- Klinische Bedeutung für Patienten
- Studieneinschränkungen
- Empfehlungen für Patienten
- Quellen
Fallvorstellung: Der 27-jährige Mann
Ein 27-jähriger Bauarbeiter suchte die Notaufnahme auf, weil er seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Drei Tage zuvor hatte er zunächst Muskelschmerzen in den Oberschenkeln bemerkt, die er auf seine körperlich anstrengende Arbeit zurückführte.
Am Morgen der Einlieferung wachte er mit einer vollständigen Lähmung der Beine auf – er konnte weder aufstehen noch stehen. Zusätzlich verspürte er eine Schwäche in den Armen, die jedoch weniger ausgeprägt war. Der Patient hatte weder ein Trauma erlitten noch klagte er über Rückenschmerzen oder Sensibilitätsstörungen.
Er war vor fünf Monaten von El Salvador nach Boston gezogen und berichtete seitdem über mehrere besorgniserregende Symptome:
- Zunehmende Probleme beim Ein- und Durchschlafen
- Lockere Stühle ohne Bauchschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen
- Unbeabsichtigter Gewichtsverlust von etwa 5 kg
- Seit Monaten Zittern in den Händen
Vier Tage vor der Vorstellung begann er, ein pflanzliches Ergänzungsmittel namens Nervitran gegen Stress einzunehmen. Er hatte keine relevante Vorerkrankungen, nahm keine verschreibungspflichtigen Medikamente und es gab keine familiäre Vorgeschichte ähnlicher Episoden – abgesehen von einer Tante mütterlicherseits mit einer nicht näher bezeichneten Schwäche.
Erste Untersuchungsbefunde
Die Untersuchung ergab:
- Blutdruck: 144/79 mm Hg (leicht erhöht)
- Herzfrequenz: 96 Schläge/Minute (leicht beschleunigt)
- Temperatur: 36,2°C (normal)
- Sauerstoffsättigung: 99% bei Raumluft
- Konjunktivale Injektion (Rötung beider Augen)
- Muskelschwäche nach medizinischer Skala:
- Armkraft: 4/5 (leichte Schwäche)
- Beinkraft: 3-5/5 (mäßige bis schwere Schwäche)
- Gestegerte Patellarsehnenreflexe (3+)
- Feinschlägiger Tremor in beiden Händen, links ausgeprägter
Laborergebnisse
Die Blutuntersuchungen zeigten mehrere Auffälligkeiten:
- Stark erniedrigtes Kalium: 1,8 mmol/L (Norm: 3,4–5,0 mmol/L)
-
Erhöhte Leberenzyme:
- Alanin-Aminotransferase: 67 U/L (Norm: 7–33)
- Aspartat-Aminotransferase: 54 U/L (Norm: 9–32)
- Alkalische Phosphatase: 156 U/L (Norm: 30–100)
- Leicht erhöhte Kreatinkinase: 382 U/L (Norm: 60–400) – Hinweis auf Muskelschädigung
- Erhöhte Aldolase: 9,9 U/L (Norm: <7,7) – weiterer Marker für Muskelbeteiligung
- Leicht erhöhter Blutzucker: 141 mg/dL (Norm: 70–110)
Das EKG zeigte eine Sinustachykardie, einen inkompletten Rechtsschenkelblock sowie unspezifische ST-Strecken- und T-Wellen-Veränderungen.
Nach Gabe von 60 mmol Kaliumchlorid oral normalisierte sich der Kaliumspiegel innerhalb von drei Stunden auf 4,2 mmol/L, und die Muskelschwäche verschwand vollständig.
Differentialdiagnose verstehen
Das Behandlungsteam zog mehrere Ursachen für die schwere Hypokaliämie und Muskelschwäche in Betracht:
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Renale Kaliumverluste (über die Nieren):
- Diuretikaeinnahme (vom Patienten verneint)
- Erbrechen oder gastrointestinale Verluste
- Genetische Erkrankungen wie Gitelman- oder Bartter-Syndrom
- Magnesiummangel
- Renale tubuläre Azidose
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Nicht-renale Kaliumverluste:
- Durchfall (vom Patienten berichtet)
- Übermäßiges Schwitzen
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Intrazelluläre Verlagerung (Kaliumverschiebung in die Zellen):
- Medikamenteneffekte
- Thyrotoxische periodische Paralyse (TPP)
- Familiäre hypokaliämische periodische Paralyse
Das rasche Ansprechen auf eine vergleichsweise geringe Kaliumdosis sprach für eine intrazelluläre Verlagerung und gegen einen echten Kaliummangel.
Wie der Körper Kalium reguliert
Kalium ist essenziell für die normale Funktion von Nerven und Muskeln. Der Körper enthält etwa 3.500 mmol Kalium, wovon 98 % in den Zellen und nur 2 % im Blut zirkulieren.
Die Natrium-Kalium-Pumpe (Na⁺/K⁺-ATPase) hält diese Verteilung aktiv aufrecht. Eine typische westliche Ernährung liefert etwa 100 mmol Kalium pro Tag, das der Körper effizient verarbeiten muss, um gefährliche Blutkaliumspitzen zu vermeiden.
Rund 90 % des überschüssigen Kaliums werden über die Nieren ausgeschieden, die restlichen 10 % über Stuhl und Schweiß. Verschiedene Erkrankungen, Medikamente und genetische Faktoren können dieses System stören.
Die richtige Diagnose stellen
Das Behandlungsteam kam zur Diagnose einer thyrotoxischen periodischen Paralyse (TPP) aufgrund folgender Faktoren:
- Demografie: 27-jähriger Mann lateinamerikanischer Herkunft – typisch für TPP
- Symptome: Gewichtsverlust, Tremor, Schlaflosigkeit und Durchfall deuteten auf eine Hyperthyreose hin
- Schnelles Ansprechen: Rasche Besserung nach Kaliumgabe, charakteristisch für intrazelluläre Verlagerung
- Ausschluss von Alternativen: Keine familiäre Vorgeschichte periodischer Lähmungen, keine relevanten Medikamente
TPP ist eine erworbene Erkrankung, die vor allem bei asiatischen und lateinamerikanischen Männern zwischen 20 und 50 Jahren auftritt. Dabei reagiert die Natrium-Kalium-Pumpe überempfindlich, was Kalium in die Zellen treibt und schwere Schwäche verursacht.
Studien mit über 2.000 chinesischen Basedow-Patienten (537 mit TPP) identifizierten genetische Varianten, die die Anfälligkeit erhöhen. Die EKG-Veränderungen des Patienten passten eher zu TPP als zu genetischen Formen.
Klinische Bedeutung für Patienten
Dieser Fall verdeutlicht mehrere wichtige Punkte:
- Plötzliche Muskelschwäche erfordert sofortige medizinische Abklärung
- Kaliumstörungen können schwerwiegende neurologische Symptome verursachen
- Schilddrüsenerkrankungen können vielfältige Symptome zeigen, u. a.:
- Muskelschwäche
- Gewichtsverlust trotz normalem Appetit
- Zittern
- Schlafstörungen
- Magen-Darm-Beschwerden
- Kulturelle Faktoren sind relevant – TPP betrifft bestimmte ethnische Gruppen häufiger
- Pflanzliche Ergänzungsmittel sollten mit Vorsicht verwendet werden, da Wechselwirkungen möglich sind
Im Gegensatz zu genetischen Formen der periodischen Paralyse kann TPP durch Behandlung der Schilddrüsenerkrankung gut therapiert werden.
Studieneinschränkungen
Bei dieser Falldarstellung sind folgende Einschränkungen zu beachten:
- Es handelt sich um die Erfahrung eines einzelnen Patienten
- Es erfolgte keine 24-Stunden-Sammelurinuntersuchung zur Kaliumausscheidung
- Schilddrüsenfunktionstests wurden nicht mitgeteilt
- Langzeitverläufe liegen nicht vor
- Das Ergänzungsmittel Nervitran wurde nicht auf Verunreinigungen untersucht
Fallberichte sind wertvoll für die ärztliche Ausbildung, bieten aber nicht das Evidenzniveau großer kontrollierter Studien.
Empfehlungen für Patienten
Basierend auf diesem Fall sollten Patienten:
- Bei plötzlicher Muskelschwäche oder Lähmung umgehend ärztliche Hilfe suchen
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Eine vollständige Anamnese mitteilen, einschließlich:
- Aller Symptome, auch scheinbar unzusammenhängender
- Ernährungsänderungen und Gewichtsentwicklung
- Aller Medikamente und Ergänzungsmittel, auch pflanzlicher
- Familienanamnese
- Kürzlicher Reisen oder Umzüge
- Eine angemessene Nachsorge wahrnehmen – ggf. ist eine Kaliumkontrolle nötig
-
Bei multiplen Symptomen eine Schilddrüsenuntersuchung anfordern, z. B. bei:
- Unerklärlichem Gewichtsverlust
- Herzrasen
- Zittern
- Angst oder Schlafstörungen
- Muskelschwäche
- Ergänzungsmittel mit Vorsicht verwenden – neue Produkte immer mit dem Arzt besprechen
Quellen
Originaltitel: Fall 13-2024: Ein 27-jähriger Mann mit Beinschwäche
Autoren: Andrew S. Allegretti, M.D., Cynthia L. Czawlytko, M.D., Nikolaos Stathatos, M.D., und Peter M. Sadow, M.D., Ph.D.
Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 25. April 2024
DOI: 10.1056/NEJMcpc2312728
Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung aus den Fallakten des Massachusetts General Hospital. Der Originalartikel erschien im New England Journal of Medicine, einer hochangesehenen medizinischen Fachzeitschrift.