Dieser Fallbericht schildert eine 30-jährige Patientin, die wenige Tage nach der Entbindung ein schweres Entzündungssyndrom entwickelte – das Sweet-Syndrom (Akute febrile neutrophile Dermatose). Trotz mehrfacher Antibiotikagaben bei Verdacht auf Infektionen verschlechterte sich ihr Zustand mit anhaltendem Fieber, Bauchschmerzen, Hautulzerationen und Entzündungen innerer Organe. Erst nach der korrekten Diagnosestellung erfolgte eine gezielte Therapie mit entzündungshemmenden Medikamenten, die zur vollständigen Genesung führte.
Ein medizinisches Rätsel einer jungen Mutter: Das Verständnis des postpartalen Sweet-Syndroms
Inhaltsverzeichnis
- Hintergrund: Warum dieser Fall relevant ist
- Fallvorstellung: Die Geschichte der Patientin
- Diagnostischer Prozess: Wie die Ärzte untersuchten
- Wichtige Befunde: Was die Tests zeigten
- Differentialdiagnose: Andere in Betracht gezogene Erkrankungen
- Enddiagnose: Sweet-Syndrom
- Behandlung und Verlauf
- Klinische Implikationen für Patientinnen
- Einschränkungen dieser Fallstudie
- Empfehlungen für Patientinnen
- Quelleninformation
Hintergrund: Warum dieser Fall relevant ist
Dieser Fall zeigt, wie entzündliche Erkrankungen nach der Entbindung manchmal Infektionen nachahmen können. Das Sweet-Syndrom (akute febrile neutrophile Dermatose) ist eine seltene entzündliche Erkrankung, die während der Schwangerschaft oder nach der Geburt auftreten kann. Sie verursacht Fieber, Hautläsionen und innere Entzündungen, die mit Infektionen verwechselt werden können – was zu verzögerter Diagnose und unnötiger Antibiotikatherapie führt.
Bei Patientinnen mit autoimmunen oder entzündlichen Erkrankungen können Schwangerschaft und Wochenbett Krankheitsschübe auslösen. Dieser Fall unterstreicht, wie wichtig es ist, entzündliche Erkrankungen in Betracht zu ziehen, wenn Infektionen nicht auf eine angemessene Behandlung ansprechen, besonders bei Patientinnen mit persönlicher oder familiärer Vorgeschichte autoimmuner Erkrankungen.
Fallvorstellung: Die Geschichte der Patientin
Eine 30-jährige Frau wurde sechs Tage nach der Geburt ihres ersten Kindes wegen Fieber und Bauchschmerzen ins Krankenhaus eingewiesen. Sie hatte routinemäßige Schwangerschaftsvorsorge erhalten und in der 35. Schwangerschaftswoche + 3 Tage einen männlichen Säugling mit 3575 Gramm entbunden, was als Frühgeburt gilt.
Während der Schwangerschaft hatte sie kleine, schmerzhafte Knötchen in der Leiste entwickelt, die zeitweise Blut und Eiter absonderten. Außerdem litt sie unter Beinschwellungen, die sich nach der Entbindung besserten. In ihrer Krankengeschichte fanden sich Rosazea, Akne, Hidradenitis suppurativa (eine chronische Hauterkrankung mit Abszessen und Narbenbildung) sowie frühere Episoden von Divertikulitis (Entzündung kleiner Ausstülpungen im Dickdarm).
Bei der Aufnahme betrug ihre Temperatur 38,7°C, und sie hatte druckschmerzhafte, gerötete Pusteln in der rechten Leiste mit Narbenbildung auf der linken Seite. Ihre Leukozytenzahl war deutlich erhöht auf 22.940 pro Mikroliter (Norm: 4.500–11.000), was auf eine signifikante Entzündung oder Infektion hindeutete.
Diagnostischer Prozess: Wie die Ärzte untersuchten
Die Ärzte vermuteten zunächst eine Endometritis (Gebärmutterentzündung) und begannen eine Behandlung mit mehreren Antibiotika, darunter Gentamicin, Clindamycin, Vancomycin, Cefepim und Metronidazol. Trotz dieser Breitbandabdeckung besserten sich ihr Fieber, die Bauchschmerzen und die Leukozytose (erhöhte Leukozytenzahl) nicht.
Es wurden mehrere bildgebende Untersuchungen durchgeführt:
- Computertomographie (CT) zeigte leichten Aszites (Bauchwasser) und Anasarka (generalisierte Körperödeme)
- Magnetresonanztomographie (MRT) wies Flüssigkeitsansammlungen im Becken von 6,3 cm und 3,2 cm nach
- Spätere Aufnahmen zeigten neue Leberveränderungen mit mehreren Flüssigkeitsansammlungen
Die Ärzte führten eine Endometriumbiopsie durch, die neutrophile Ablagerungen und dichte neutrophile Infiltrate zeigte. Ein perkutaner Katheter drainierte 20 ml eitrige Flüssigkeit aus einer Beckenansammlung, aber Kulturen ergaben kein bakterielles Wachstum.
Am 11. Krankenhaustag verschlechterte sich ihr Zustand mit zunehmenden Bauchschmerzen, Atemnot und einer Sauerstoffsättigung von 86 % unter Raumluft (normal 95–100 %). Sie benötigte Sauerstoff mit 2 Litern pro Minute.
Wichtige Befunde: Was die Tests zeigten
Laboruntersuchungen zeigten fortschreitende Auffälligkeiten:
- Leukozyten stiegen von 22.940 auf 34.720 pro Mikroliter
- Neutrophile (Entzündungszellen) stiegen von 19.230 auf 33.470 pro Mikroliter
- Hämoglobin fiel von 8,5 auf 8,1 g/dL (Hinweis auf Anämie)
- Thrombozyten stiegen von 456.000 auf 590.000 pro Mikroliter
- C-reaktives Protein (Entzündungsmarker) war deutlich erhöht auf 132,0 mg/dL (Norm: 0,0–0,8)
- Blutsenkungsgeschwindigkeit (weiterer Entzündungsmarker) war erhöht auf 55 mm/Stunde (Norm: 0–20)
Neue Hautläsionen entwickelten sich an Stellen kleiner Verletzungen, einschließlich IV-Katheterstellen und der Drainageeinstichstelle. Diese Läsionen erschienen als violett-rötliche, fragile Plaques, die ulzerierten. Dieses Phänomen, bei dem Läsionen an Stellen kleiner Traumata entstehen, wird als Pathergie bezeichnet.
Bildgebende Untersuchungen zeigten fortschreitende Auffälligkeiten, darunter:
- Zunehmender Aszites und Anasarka
- Neue Splenomegalie (vergrößerte Milz) und Hepatomegalie (vergrößerte Leber)
- Mehrere neue intrahepatische Flüssigkeitsansammlungen
- Hinweise auf mögliche Rechtsherzbelastung mit erweiterten Rechtsherzkammern
Differentialdiagnose: Andere in Betracht gezogene Erkrankungen
Die Ärzte zogen mehrere mögliche Diagnosen in Betracht, bevor sie zur endgültigen Schlussfolgerung kamen:
Infektionen: Trotz negativer Kulturen erwogen die Ärzte atypische Infektionen, einschließlich Pilz- und mykobakterieller Infektionen, obwohl die Patientin keine bekannte Immunschwäche hatte.
Autoinflammatorische Syndrome: Erkrankungen wie PAPA-Syndrom (pyogene Arthritis, Pyoderma gangraenosum und Akne) und PASH-Syndrom (Pyoderma gangraenosum, Akne und Hidradenitis suppurativa) wurden aufgrund ihrer Hautvorgeschichte und familiären Autoimmunanamnese in Betracht gezogen.
Systemische Vaskulitiden: Das Vorliegen von Mikrohämaturie, erhöhten Entzündungsmarkern und pulmonalen Symptomen deutete auf eine mögliche Vaskulitis (Gefäßentzündung) hin, aber die Hautläsionen waren dafür nicht typisch.
Neutrophile Dermatosen: Das Pathergie-Phänomen (Läsionen an Traumastellen) grenzte die Diagnose auf Erkrankungen wie Pyoderma gangraenosum, kutanen Morbus Crohn, Morbus Behçet oder Sweet-Syndrom ein.
Enddiagnose: Sweet-Syndrom
Die Diagnose wurde durch eine Hautbiopsie eines Ulkus an ihrem linken Oberarm bestätigt. Die Biopsie zeigte:
- Ein dichtes entzündliches Infiltrat durch das Gewebe
- Epidermale Ulzeration und Erosion
- Ein dermales entzündliches Infiltrat, das fast ausschließlich aus Neutrophilen bestand
- Keine Hinweise auf Vaskulitis (Gefäßentzündung)
- Negative Spezialfärbungen für Mikroorganismen (Bakterien, Pilze und säurefeste Stäbchen)
- Negative Gewebekulturen
Diese Befunde waren konsistent mit dem Sweet-Syndrom (akute febrile neutrophile Dermatose), einer Erkrankung, die durch Fieber, Neutrophilie (erhöhte Neutrophilenzahl) und schmerzhafte Hautläsionen charakterisiert ist und typischerweise auf Kortikosteroide und nicht auf Antibiotika anspricht.
Behandlung und Verlauf
Nach der Diagnose Sweet-Syndrom wurde die Patientin mit Glukokortikoiden (entzündungshemmende Medikamente) behandelt. Ihre Reaktion war dramatisch und schnell:
Am 2. Tag der Glukokortikoidbehandlung veränderte sich das Hautulkus von einem ödematösen Ulkus mit violettem Rand zu einem flachen, scharf begrenzten Ulkus mit stark verminderter Entzündung.
Bis zum 3. Tag zeigte die Läsion beginnende marginale Reepithelialisierung (Heilung von den Rändern).
Nach 24 Behandlungstagen zeigte die Läsion nahezu vollständige Reepithelialisierung mit nur einem kleinen Bereich zentraler Hypergranulation.
Zwei Monate nach Abschluss der Glukokortikoidbehandlung war die Läsion vollständig abgeheilt und hinterließ nur einen rosafarbenen Fleck mit einer zentralen linearen Plaque, die einer hypertrophen Narbe entsprach.
Die systemischen Symptome der Patientin besserten sich ebenfalls unter der entzündungshemmenden Behandlung, was bestätigte, dass die Bauchschmerzen, das Fieber und die inneren Organentzündungen alle Teil der Sweet-Syndrom-Präsentation waren.
Klinische Implikationen für Patientinnen
Dieser Fall hat mehrere wichtige Implikationen für Patientinnen:
Das Sweet-Syndrom kann während der Schwangerschaft oder nach der Geburt auftreten und durch hormonelle Veränderungen getriggert werden. Patientinnen mit vorbestehenden entzündlichen Hauterkrankungen wie Hidradenitis suppurativa könnten ein erhöhtes Risiko haben.
Die Erkrankung kann mit systemischen Symptomen wie Fieber, Bauchschmerzen und inneren Organentzündungen einhergehen, die Infektionen imitieren. Dies kann zu Fehldiagnosen und unnötiger Antibiotikabehandlung führen.
Das Pathergie-Phänomen (Entwicklung von Läsionen an Stellen kleiner Traumata) ist ein wichtiger Hinweis, der auf neutrophile Dermatosen wie das Sweet-Syndrom und nicht auf Infektionen hindeutet.
Patientinnen mit persönlicher oder familiärer Vorgeschichte autoimmuner oder entzündlicher Erkrankungen sollten sich bewusst sein, dass Schwangerschaft und Wochenbett Krankheitsschübe auslösen könnten, die andere Behandlungsansätze als bei Infektionen erfordern.
Einschränkungen dieser Fallstudie
Dieser Bericht beschreibt die Erfahrung einer einzelnen Patientin, was bedeutet, dass die Befunde nicht auf alle Patientinnen verallgemeinert werden können. Das Sweet-Syndrom ist selten und betrifft etwa 1–3 pro Million Menschen jährlich, und sein Auftreten während Schwangerschaft/Wochenbett ist noch seltener.
Die Diagnose wurde nach mehreren Behandlungsversuchen gestellt, was die klinische Präsentation beeinflusst haben könnte. Die persönliche Vorgeschichte der Patientin mit Hidradenitis suppurativa und familiäre Autoimmunanamnese könnten einzigartige Risikofaktoren darstellen, die nicht bei allen Patientinnen vorliegen.
Es wurden keine Gentests auf autoinflammatorische Syndrome wie PAPA- oder PASH-Syndrom durchgeführt, daher können wir diese verwandten Erkrankungen nicht vollständig ausschließen.
Empfehlungen für Patientinnen
Basierend auf diesem Fall sollten Patientinnen:
- Vollständige Krankengeschichten mit Gesundheitsdienstleistern teilen, einschließlich familiärer Autoimmunanamnese und persönlicher Entzündungsanamnese
- Bewusst sein, dass nicht alle Fieber nach Entbindung Infektionen sind – entzündliche Erkrankungen können ähnliche Symptome verursachen
- Hautveränderungen notieren, insbesondere Läsionen, die sich an Stellen kleiner Traumata wie IV-Stellen oder Kratzern entwickeln
- Nach diagnostischen Möglichkeiten fragen, wenn Infektionen nicht auf angemessene Antibiotika ansprechen
- Verstehen, dass Hautbiopsien manchmal notwendig sind, um entzündliche Hauterkrankungen zu diagnostizieren
Für Patientinnen mit bekannten entzündlichen Erkrankungen sollten Schwangerschafts- und Wochenbett-Managementpläne mit Spezialisten vor der Entbindung besprochen werden. Frühes Erkennen von Krankheitsschüben kann unnötige Behandlungen und Komplikationen verhindern.
Quelleninformation
Originalartikeltitel: Fall 22-2024: Eine 30-jährige Frau mit postpartalem Fieber, Bauchschmerzen und Hautulzera
Autoren: Joseph F. Merola, Rory L. Cochran, Daniela Kroshinsky, Malavika Prabhu, Melanie C. Kwan
Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 18. Juli 2024
DOI: 10.1056/NEJMcpc2309500
Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf peer-reviewter Forschung aus den Case Records des Massachusetts General Hospital.