Der rätselhafte Fall eines jungen Mannes: Wie ein Vitamin-B12-Mangel zu schwerer Erschöpfung und Blutbildveränderungen führte.

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Ein 21-jähriger, bislang gesunder Mann entwickelte innerhalb von vier Wochen starke Müdigkeit, Nachtschweiß und Schwindel, was zu einer Krankenhauseinweisung führte. Dort diagnostizierten die Ärzte kritisch niedrige Blutwerte und extrem erhöhte Spiegel eines Zellschädigungsmarkers. Nach gründlicher Auswertung der Blutuntersuchungen und Symptome schlossen medizinische Experten Infektionen, Krebserkrankungen und Autoimmunstörungen aus, bevor sie einen schweren Vitamin-B12-Mangel als Ursache identifizierten. Dieser Fall zeigt, wie ein Nährstoffmangel schwerwiegendere Erkrankungen imitieren kann.

Die rätselhafte Erkrankung eines jungen Mannes: Wie ein Vitamin-B12-Mangel zu schwerer Erschöpfung und Blutbildveränderungen führte

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund: Das medizinische Rätsel

Dieser Fall aus dem Massachusetts General Hospital zeigt, wie Vitaminmangel manchmal dramatische und besorgniserregende Symptome hervorrufen kann, die schwerwiegendere Erkrankungen imitieren. Die Krankengeschichte des Patienten unterstreicht die Bedeutung einer gründlichen Diagnostik, selbst wenn die Symptome auf lebensbedrohliche Krankheiten hindeuten.

Vitamin-B12-Mangel betrifft etwa 6 % der unter 60-jährigen Erwachsenen in den USA, wobei die Häufigkeit mit dem Alter zunimmt. Obwohl verbreitet, wird er oft übersehen, wenn Patienten mit schweren Symptomen erscheinen, die auf akute Notfälle schließen lassen.

Fallvorstellung: Die Krankengeschichte

Ein 21-jähriger Mann stellte sich im Sommer mit besorgniserregenden Symptomen im Krankenhaus vor, die sich über vier Wochen entwickelt hatten. Bis zum Auftreten von Übelkeit und Erbrechen, die einen Tag anhielten, war er vollständig gesund; danach folgte anhaltende Erschöpfung.

Zwei Wochen vor der Einweisung kamen weitere Symptome hinzu, darunter Schwindel bei Lagewechsel und Nachtschweiß. Seine Erschöpfung verschlimmerte sich bis zum Aufnahmemorgen, als er sogar im Liegen Schwindel verspürte, was seinen Gang in die Notaufnahme auslöste.

Der Patient arbeitete als Tischler mit wenig Freiluftexposition. Er lebte mit seiner Familie und hatte Haustiere: zwei Katzen und einen Hund. Er nahm keine Medikamente, rauchte nicht, trank keinen Alkohol, konsumierte keine Drogen, und seine Familiengeschichte war bis auf eine mütterliche Großmutter mit Lymphom unauffällig.

Erstuntersuchung und Laborbefunde

Im ersten Krankenhaus dokumentierten die Ärzte Vitalparameter mit einer Herzfrequenz von 121 Schlägen pro Minute (normal 60–100) und blassen Bindehäuten, die auf eine Anämie hindeuteten. Seine Blutwerte zeigten drei kritische Auffälligkeiten:

  • Schwere Anämie: Hämoglobin von 5,1 g/dL (normal 14,0–18,0)
  • Erniedrigte Leukozyten: 1.900 Zellen/μL (normal 4.800–10.800)
  • Erniedrigte Thrombozyten: 125.000 Thrombozyten/μL (normal 150.000–400.000)

Am auffälligsten war seine extrem erhöhte Laktatdehydrogenase (LDH) – ein Marker für Zellschäden – von >2.500 U/L (normal 135–225). Er erhielt eine Bluttransfusion und wurde zur spezialisierten Versorgung ins Massachusetts General Hospital verlegt.

Dort hatten sich seine Vitalwerte mit einer Herzfrequenz von 89 Schlägen pro Minute verbessert. Die Ärzte stellten Hautdepigmentierungen (Farbverlust) an Ellbogen, Fingern und Füßen fest – ein Befund, der sich später als entscheidend erwies. Die übrige körperliche Untersuchung war unauffällig.

Der diagnostische Prozess

Die medizinischen Teams führten umfangreiche Tests durch, um die Ursache der Symptome zu finden. Sein Blutausstrich zeigte abnormale rote Blutkörperchen, darunter:

  • Makroovalozyten (abnorm große, ovale rote Zellen)
  • Dakryozyten (tränenförmige Zellen)
  • Neutrophile mit erhöhter Segmentierung (6 oder mehr Kernlappen)
  • Einige Zellen mit basophiler Tüpfelung (abnormale blaue Speckung)

Ein abdominaler Ultraschall ergab eine milde Splenomegalie von 15,8 cm (normal <14,1 cm für seine Größe und Geschlecht). Zahlreiche Infektionstests – einschließlich Lyme-Borreliose, HIV, COVID-19, Epstein-Barr-Virus, Zytomegalievirus und Parvovirus – fielen negativ aus.

Differentialdiagnose: Andere infrage kommende Erkrankungen

Das medizinische Team zog mehrere mögliche Erklärungen für die schweren Symptome in Betracht:

Kongenitale Erkrankungen: Genetische Störungen wie GATA2-Mangel oder Fanconi-Anämie wurden erwogen, aber aufgrund des raschen Symptombeginns (4 Wochen statt Jahre) und des extrem hohen LDH-Werts als unwahrscheinlich eingestuft.

Infektionen: Verschiedene virale und bakterielle Infektionen wurden getestet, doch keine verursacht typischerweise eine so stark erhöhte LDH (fast 3000 U/L) zusammen mit einer makrozytären Anämie.

Malignome: Leukämie oder Lymphom waren ernsthafte Überlegungen angesichts von Nachtschweiß und Familienanamnese, aber erhaltene Thrombozyten- und Retikulozytenzahlen deuteten darauf hin, dass das Knochenmark nicht vollständig von Krebszellen infiltriert war.

Autoimmunerkrankungen: Erkrankungen wie Lupus oder hämophagozytische Lymphohistiozytose waren möglich, aber es fehlten unterstützende Befunde wie Fieber oder erhöhtes Ferritin.

Hämolytische Anämie: Das Team schloss Zustände aus, bei denen der Körper eigene rote Blutkörperchen zerstört, weil die Retikulozytenantwort angesichts des Ausmaßes der Anämie und LDH-Erhöhung zu niedrig war.

Der diagnostische Ansatz beinhaltete die Analyse von "Skalierungsfunktionen" – wie sich verschiedene Laborwerte zueinander verhielten. Die extrem hohe LDH (Marker für Zellschäden) zusammen mit relativ moderater Bilirubinerhöhung und niedriger Retikulozytenantwort ergab ein für Vitamin-B12-Mangel charakteristisches Muster.

Enddiagnose und bestätigende Tests

Das medizinische Team diagnostizierte schließlich einen schweren Vitamin-B12-Mangel. Bestätigende Tests ergaben:

  • Vitamin-B12-Spiegel: <150 pg/mL (schwerer Mangel, normal >231 pg/mL)
  • Methylmalonsäure: 1,00 nmol/mL (erhöht, normal <0,40)
  • Homocystein: 21,5 μmol/L (erhöht, normal 0–14,2)
  • Folatsäurespiegel: 4,9 ng/mL (niedrig-normal, >4,7 als ausreichend betrachtet)

Eine Knochenmarkbiopsie zeigte eine normozelluläre Hämatopoese mit linksverschobener erythroider Hyperplasie – sein Knochenmark produzierte rote Blutkörperchen, die nicht richtig ausreiften, was für B12-Mangel typisch ist.

Die zuvor festgestellte Hautdepigmentierung lieferte einen wichtigen Hinweis, da Vitiligo (autoimmune Hautdepigmentierung) mit perniziöser Anämie assoziiert ist – einer Autoimmunerkrankung, die B12-Mangel verursacht.

Klinische Implikationen für Patienten

Dieser Fall zeigt mehrere wichtige klinische Erkenntnisse über Vitamin-B12-Mangel:

Schwerer B12-Mangel kann sich in manchen Fällen rasch entwickeln, entgegen der traditionellen Annahme, dass die Entleerung Jahre dauert. Die hämatologischen (Blut-) und neurologischen Symptome können unabhängig voneinander auftreten – dieser Patient hatte schwere Blutbildveränderungen ohne offensichtliche Nervenschäden.

Labormuster sind entscheidend für die Diagnose. Die Kombination aus extrem hoher LDH, moderater Bilirubinerhöhung, niedriger Retikulozytenantwort und makrozytärer Anämie erzeugt ein charakteristisches Muster, das Experten erkennen können.

Hautbefunde wie Vitiligo können diagnostische Hinweise auf assoziierte Autoimmunerkrankungen liefern, die möglicherweise eine B12-Malabsorption verursachen.

Einschränkungen dieser Fallstudie

Als Einzelfallbericht repräsentiert diese Darstellung nur die Erfahrung eines Patienten. Der rasche Beginn schwerer Symptome ist möglicherweise nicht typisch für die meisten B12-Mangel-Fälle.

Die genaue Ursache des B12-Mangels dieses Patienten wurde nicht vollständig geklärt, obwohl basierend auf der Vitiligo-Assoziation eine perniziöse Anämie (Autoimmunerkrankung) vermutet wurde. Nicht alle Patienten werden solche klaren assoziierten Befunde haben.

Die dramatischen Laboranomalien könnten zu Überdiagnostik für schwerwiegendere Erkrankungen führen, bevor Ernährungsdefizite in Betracht gezogen werden, was in einigen Fällen die Diagnose verzögern könnte.

Empfehlungen für Patienten

Wenn Sie anhaltende Erschöpfung, Schwindel oder Nachtschweiß erfahren:

  1. Suchen Sie eine medizinische Abklärung auf, anstatt davon auszugehen, dass die Symptome nur von Stress oder Schlafmangel herrühren
  2. Verlangen Sie grundlegende Blutuntersuchungen einschließlich eines vollständigen Blutbilds (VBB) und möglicherweise Vitaminspiegel bei Verdacht auf Mangel
  3. Notieren Sie Hautveränderungen wie Depigmentierung, um sie mit Ihrem Arzt zu besprechen
  4. Übersehen Sie nicht ernährungsbedingte Ursachen, selbst wenn die Symptome schwerwiegend erscheinen – Mangelzustände können dramatische Präsentationen verursachen
  5. Verfolgen Sie abnormale Ergebnisse nach, selbst wenn Sie sich besser fühlen, da zugrunde liegende Erkrankungen behandelt werden müssen

Für Patienten mit bestätigtem B12-Mangel umfasst die Behandlung typischerweise B12-Injektionen oder hochdosierte orale Supplemente mit regelmäßiger Überwachung, um sicherzustellen, dass die Spiegel normalisieren und die Symptome abklingen.

Quellenangaben

Originalartikeltitel: Fall 6-2024: Ein 21-jähriger Mann mit Erschöpfung und Nachtschweiß

Autoren: Jonathan C.T. Carlson, M.D., Madeleine M. Sertic, M.B., B.Ch., und Maria Y. Chen, M.D., Ph.D.

Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 22. Februar 2024; 390:747–56

DOI: 10.1056/NEJMcpc2309498

Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung aus den Fallaufzeichnungen des Massachusetts General Hospital.