Der rätselhafte Krankheitsfall eines jungen Mannes: Leptospirose und Multiorganversagen verstehen. Fall 14

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Dieser Fallbericht beschreibt einen zuvor gesunden 37-jährigen Mann, der eine schwere Erkrankung mit hohem Fieber, Muskelschmerzen, Ikterus (Gelbfärbung der Haut) und Atemversagen entwickelte, die eine Krankenhauseinweisung erforderte. Nach umfangreicher Diagnostik stellten die Ärzte die Diagnose einer Leptospirose (Morbus Weil), einer bakteriellen Infektion, die typischerweise durch Tierurin in Süßwasserumgebungen übertragen wird. Der Patient hatte seinen Hund in der Nähe eines Flusses ausgeführt und entwickelte ein multiples Organversagen mit Nierenschädigung, Leberfunktionsstörung mit extrem hohen Bilirubinwerten sowie Sauerstoffmangel, der eine Beatmung erforderlich machte.

Die rätselhafte Erkrankung eines jungen Mannes: Verständnis von Leptospirose und Multiorganversagen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Warum dieser Fall relevant ist

Dieser Fall aus dem Massachusetts General Hospital zeigt, wie eine zuvor gesunde junge Person durch eine seltene Infektion eine lebensbedrohliche Erkrankung entwickeln kann. Leptospirose kommt in Neuengland zwar selten vor, kann jedoch auftreten, wenn Menschen kontaminiertem Süßwasser ausgesetzt sind. Der Fall unterstreicht, wie wichtig es ist, auch ungewöhnliche Infektionen in Betracht zu ziehen, wenn Patienten mit Multiorganversagen vorstellig werden – selbst ohne typische Risikofaktoren wie Auslandsreisen.

Die Krankengeschichte: Symptome und Zeitverlauf

Ein 37-jähriger, bis dahin gesunder Mann erkrankte innerhalb von 9 Tagen schwer. Zunächst litt er unter extremer Müdigkeit, Schwäche und einem fast ununterbrochenen Schlafbedürfnis. Sieben Tage vor der Aufnahme entwickelte er hohes Fieber (39,4°C), Kopfschmerzen sowie starke Glieder- und Gelenkschmerzen mit Steifheit in Armen, Schultern, Knien und Beinen.

Sein Appetit ließ nach, und ihm war übel, doch hatte er keine Bauchschmerzen, erbrach nicht und litt nicht unter Durchfall. Fünf Tage vor der Aufnahme besserten sich Fieber und Kopfschmerzen, aber die Gliederschmerzen nahmen zu, und sein Urin verfärbte sich dunkelgelb. Drei Tage vor der Aufnahme suchte er eine Notfallpraxis auf, wo Tests auf COVID-19, RSV und Influenza negativ ausfielen.

Zwei Tage vor der Aufnahme kehrte er mit neu aufgetretener Gelbfärbung von Haut und Augen (Ikterus) in die Notfallpraxis zurück und wurde in die Notaufnahme überwiesen. Sein Partner hatte eine ähnliche, aber mildere Erkrankung mit Fieber, Unwohlsein, Übelkeit und Durchfall durchgemacht, die 7 Tage früher begann und nach 4 Tagen abklang.

Erste medizinische Befunde

Bei der Aufnahmeuntersuchung in der Notaufnahme zeigte der Patient:

  • Normale Temperatur: 36,8°C
  • Niedrigen Blutdruck: 106/70 mm Hg
  • Erhöhte Herzfrequenz: 109 Schläge pro Minute
  • Normale Atemfrequenz: 18 Atemzüge pro Minute
  • Normale Sauerstoffsättigung: 100% bei Raumluft

Besorgniserregende Laborbefunde waren:

  • Erhöhte Leukozytenzahl: 17.900/µl (Norm: 4.500–11.000)
  • Sehr niedrige Thrombozytenzahl: 34.000/µl (Norm: 150.000–400.000)
  • Normales Hämoglobin: 15,7 g/dl (Norm: 13,0–17,0)
  • Erhöhtes Kreatinin als Hinweis auf Nierenversagen: 3,0 mg/dl (Norm: 0,6–1,4)
  • Stark erhöhtes Gesamtbilirubin als Hinweis auf Leberprobleme: 15,9 mg/dl (Norm: 0,0–1,2)
  • Sehr hohes direktes Bilirubin: >10,0 mg/dl (Norm: 0,0–0,5)

Detaillierte Laborergebnisse

Die vollständigen Laborwerte des Patienten wiesen multiple Auffälligkeiten auf:

Blutuntersuchungen (2 Tage vor Aufnahme):

  • Leukozyten: 17.900/µl (erhöht)
  • Neutrophile: 16.100/µl (erhöht)
  • Lymphozyten: 500/µl (erniedrigt)
  • Hämoglobin: 15,7 g/dl (normal)
  • Thrombozyten: 34.000/µl (stark erniedrigt)
  • Natrium: 129 mmol/l (erniedrigt)
  • Kreatinin: 3,0 mg/dl (erhöht, Hinweis auf Nierenfunktionsstörung)
  • Harnstoffstickstoff: 48 mg/dl (erhöht)
  • Gesamtbilirubin: 15,9 mg/dl (stark erhöht)
  • Direktes Bilirubin: >10,0 mg/dl (stark erhöht)

Blutuntersuchungen (bei Aufnahme ins Massachusetts General Hospital):

  • Leukozyten: 21.700/µl (weiter erhöht)
  • Hämoglobin: 10,2 g/dl (erniedrigt, Abfall von 15,7)
  • Thrombozyten: 67.000/µl (weiterhin niedrig, aber gebessert)
  • Natrium: 124 mmol/l (stark erniedrigt)
  • Kreatinin: 3,36 mg/dl (weiterhin erhöht)
  • Gesamtbilirubin: 26,1 mg/dl (noch höher)
  • Direktes Bilirubin: 26,1 mg/dl (extrem erhöht)

Urinuntersuchungen zeigten:

  • Große Mengen Bilirubin
  • Mäßige Blutbeimengung
  • Erhöhte Glukose (250 mg/dl)
  • Spuren von Ketonen
  • Eiweiß (300 mg/dl)

Bildgebende Untersuchungen

Dr. Ryan Chung beurteilte die bildgebenden Untersuchungen:

Röntgen-Thorax: Zeigte beidseits überwiegend periphere, fleckige Verschattungen.

Abdomensonographie: Zeigte hyperechogene und prominente Portalgefäßtriaden mit einem „Sternenhimmel“-Aspekt, jedoch keine Gallengangserweiterung oder Nierenschwellung.

CT von Thorax, Abdomen und Becken: Erbrachte multiple auffällige Befunde:

  • Multifokale konsolidierende und milchglasartige Verschattungen mit Baum-in-Knospen-Konfiguration in beiden Lungen
  • Kleine Pleuraergüsse (Flüssigkeit um die Lungen)
  • Vergrößerte mediastinale und hiläre Lymphknoten
  • Keine Leberläsionen, Gallengangserweiterung oder Leber-/Milzvergrößerung

Was könnte dies sein? Differentialdiagnose

Dr. William C. Hillmann zog mehrere Möglichkeiten für dieses komplexe Krankheitsbild in Betracht:

Nicht-infektiöse Ursachen:

  • Krebs (Leukämie oder Lymphom) – unwahrscheinlich aufgrund der Blutzellmuster
  • ANCA-assoziierte Vaskulitis – eine Autoimmunerkrankung, die multiple Organe betreffen kann

Infektiöse Ursachen:

Zeckenübertragene Erkrankungen:

  • Lyme-Borreliose – häufig in Neuengland, verursacht aber typischerweise keine derart schwere Erkrankung
  • Anaplasmose – kann schwere Erkrankung, Anämie und niedrige Thrombozyten verursachen
  • Babesiose – ähnlich wie Malaria, kann schwere Erkrankung mit niedrigen Thrombozyten und respiratorischem Versagen verursachen
  • Rocky-Mountain-Fleckfieber – kann schwere Erkrankung mit niedrigen Thrombozyten und Leberauffälligkeiten verursachen

Pilzinfektionen: Wie Histoplasmose oder Blastomykose – unwahrscheinlich ohne Reisen in Endemiegebiete oder Risikofaktoren.

Virusinfektionen: Epstein-Barr-Virus, Zytomegalievirus oder akute HIV-Infektion – möglich, aber Hyperbilirubinämie wäre ungewöhnlich.

Das entscheidende Merkmal war die schwere konjugierte Hyperbilirubinämie (sehr hohes direktes Bilirubin) ohne andere Zeichen einer Leberschädigung, was die Möglichkeiten erheblich eingrenzte.

Zur Diagnosefindung: Leptospirose

Dr. Hillmann diagnostizierte letztlich Leptospirose, speziell die schwere Form namens Weil-Syndrom. Mehrere Faktoren sprachen dafür:

  • Der Patient ging täglich mit seinem Hund durch Wälder und entlang eines Flusses
  • Er erinnerte sich an multiple Insektenstiche während dieser Spaziergänge
  • Sein Partner hatte eine ähnliche, aber mildere Erkrankung
  • Das klinische Bild passte zur ikterischen Leptospirose: Fieber, Multiorganversagen, akutes Nierenversagen und konjugierte Hyperbilirubinämie
  • Respiratorisches Versagen könnte durch pulmonale Hämorrhagie oder Myokarditis resultieren, beides Komplikationen der Leptospirose

Leptospirose ist eine zoonotische bakterielle Infektion (von Tieren auf Menschen übertragen), die am häufigsten in tropischen Umgebungen vorkommt, aber auch in gemäßigten Regionen wie Neuengland möglich ist. Menschen infizieren sich durch Kontakt mit Urin infizierter Säugetiere (oft Ratten) oder Exposition gegenüber mit Urin kontaminiertem Süßwasser.

Während Leptospirose üblicherweise mildes, selbstlimitierendes Fieber verursacht, schreitet sie in 10–15% der Fälle zur schweren ikterischen Leptospirose (Weil-Syndrom) fort, charakterisiert durch:

  • Fieber
  • Fortschreitendes Multiorganversagen
  • Akutes Nierenversagen
  • Konjugierte Hyperbilirubinämie (der Mechanismus ist nicht vollständig verstanden)
  • Mögliche Komplikationen: konjunktivale Suffusionen, pulmonale Hämorrhagie und Myokarditis

Wie Leptospirose diagnostiziert wird

Dr. Robyn A. Stoddard erläuterte den diagnostischen Ansatz bei Leptospirose:

Leptospira-Bakterien sind spiralenförmige, gramnegative Bakterien, die durch verschiedene Methoden nachgewiesen werden können:

Der Zeitpunkt der Testung ist entscheidend:

  • Erste Krankheitswoche: Vollblut sollte mittels Nukleinsäure-Amplifikationstest (NAT) untersucht werden. Serum sollte auf IgM-Antikörper getestet werden, die 5–7 Tage nach Symptombeginn auftreten.
  • Nach der ersten Woche: Urin wird zum bevorzugten Probenmaterial für NAT. Rekonvaleszentenserum (aus der Erholungsphase) sollte getestet und mit Akutserum verglichen werden, falls verfügbar.

Testmethoden umfassen:

  • Mikroskopischer Agglutinationstest (MAT) – der Goldstandard, aber nicht weit verfügbar
  • IgM-Antikörpernachweis-Assays – sensitiver in der Akutphase
  • Polymerase-Kettenreaktion (PCR)-Testung – detektiert bakterielle DNA

In diesem Fall unterzog sich der Patient einer Leberbiopsie, die entzündliche Veränderungen zeigte, die mit einer Infektion vereinbar waren, aber keine spezifischen Zeichen einer Leptospirose. Spezialfärbungen und zusätzliche Testungen waren für die definitive Diagnose erforderlich.

Was dies für Patienten bedeutet

Dieser Fall hat mehrere wichtige Implikationen für Patienten:

Leptospirose kann an unerwarteten Orten auftreten: Während traditionell als Tropenkrankheit betrachtet, können Klimawandel und andere Faktoren ihre Verbreitung in gemäßigte Regionen wie Neuengland ausweiten.

Süßwasseraktivitäten bergen potenzielle Risiken: Aktivitäten mit Süßwasserexposition (Schwimmen, Kajakfahren, sogar Spaziergänge entlang von Flüssen) können Menschen potenziell Leptospirose aussetzen, wenn das Wasser mit Tierurin kontaminiert ist.

Haustierbesitzer sollten informiert sein: Hunde können Leptospirose tragen und verbreiten. Eine Impfung ist für Hunde verfügbar und wird in einigen Regionen häufig verabreicht.

Früherkennung ist entscheidend: Die Erkrankung kann sich rasch von milden Symptomen zu lebensbedrohlichem Multiorganversagen entwickeln. Eine frühzeitige Behandlung mit geeigneten Antibiotika (wie Doxycyclin) ist wichtig.

Einschränkungen dieses Falls

Dieser Einzelfallbericht weist mehrere Einschränkungen auf:

  • Er beschreibt die Erfahrung eines Patienten, die nicht alle Fälle von Leptospirose repräsentieren mag
  • Die Diagnosestellung war herausfordernd und erforderte multiple spezialisierte Tests
  • Ohne bekannten Ausbruch oder klare Expositionsanamnese bleibt die Infektionsquelle vermutet statt bestätigt
  • Der Fall ereignete sich in einem großen akademischen medizinischen Zentrum mit umfangreichen Ressourcen, die nicht überall verfügbar sind

Empfehlungen für Patienten

Basierend auf diesem Fall sollten Patienten:

  1. Seien Sie sich möglicher Risiken bewusst bei Süßwasseraktivitäten, insbesondere bei vorhandenen Hautverletzungen wie Schnitten oder Schürfwunden, die Bakterien eindringen lassen könnten
  2. Suchen Sie umgehend ärztliche Hilfe auf bei Fieber, Muskelschmerzen und Gelbsucht nach möglichem Kontakt mit Süßwasserumgebungen
  3. Informieren Sie Ihren Arzt über Umweltexpositionen wie Süßwasserkontakt, Insektenstiche oder Kontakt mit erkrankten Haustieren
  4. Erwägen Sie eine Impfung Ihrer Haustiere gegen Leptospirose in Endemiegebieten oder bei Reisen in solche Regionen
  5. Befolgen Sie strikte Hygienemaßnahmen nach Kontakt mit Tieren oder Erde, die mit Tierurin kontaminiert sein könnte

Quelleninformation

Originaltitel: Fall 31-2024: Ein 37-jähriger Mann mit Fieber, Myalgie, Ikterus und respiratorischer Insuffizienz

Autoren: William C. Hillmann, MD; Ryan Chung, MD; Amir M. Mohareb, MD; Miranda E. Machacek, MD, PhD; Robyn A. Stoddard, DVM, PhD

Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 10. Oktober 2024; 391:1343–1354

DOI: 10.1056/NEJMcpc2402493

Dieser patientengerechte Artikel basiert auf begutachteter Forschung aus den Fallakten des Massachusetts General Hospital.