Eine 30-jährige Patientin litt drei Jahre lang unter starken Rückenschmerzen, Beinsteifheit und unerklärlichen Stürzen, die ihren Alltag erheblich beeinträchtigten. Nach mehreren fachärztlichen Untersuchungen ohne auffällige Befunde wurde schließlich das Stiff-Person-Syndrom diagnostiziert – eine seltene autoimmune neurologische Erkrankung. Die Diagnose wurde durch spezifische Antikörpertests bestätigt (GAD65-Autoantikörper-Spiegel von 169 nmol/L). Unter einer Behandlung mit Benzodiazepinen besserten sich ihre Symptome deutlich. Dieser Fall unterstreicht die Bedeutung, bei ungeklärten neurologischen Symptomen auch autoimmune Ursachen in Betracht zu ziehen.
Die Reise einer jungen Frau mit ungeklärten Rückenschmerzen, Beinsteifheit und Stürzen
Inhaltsverzeichnis
- Hintergrund: Die Geschichte der Patientin
- Symptomverlauf und Krankengeschichte
- Diagnostische Untersuchungen und Bildgebungsergebnisse
- Befunde der körperlichen Untersuchung
- Differenzialdiagnose: Was könnte dies sein?
- Zum richtigen Diagnoseergebnis gelangen
- Diagnosebestätigungsprozess
- Behandlungs- und Therapieansatz
- Was dies für Patientinnen und Patienten bedeutet
- Einschränkungen und Überlegungen
- Empfehlungen für Patientinnen und Patienten
- Quelleninformation
Hintergrund: Die Geschichte der Patientin
Eine 30-jährige Frau stellte sich in der neurologischen Ambulanz des Massachusetts General Hospital mit einer dreijährigen Vorgeschichte von Rückenschmerzen und Beinsteifheit vor, die ihre Lebensqualität erheblich beeinträchtigten. Ihr Fall zeigt, wie komplexe neurologische Erkrankungen diagnostisch herausfordernd sein können und oft mehrere fachärztliche Beurteilungen über einen längeren Zeitraum erfordern.
Diese zuvor gesunde Frau begann im Alter von 27 Jahren Symptome zu entwickeln, die schließlich zu einer seltenen Autoimmun-Diagnose führten. Ihr Weg unterstreicht die Bedeutung beharrlicher medizinischer Abklärung, wenn Symptome nicht den typischen Mustern folgen oder auf konventionelle Behandlungen ansprechen.
Symptomverlauf und Krankengeschichte
Die Symptome der Patientin begannen abrupt drei Jahre vor der aktuellen Untersuchung, als sie beim Versuch, aus sitzender Position aufzustehen, Steifheit im Rücken und in den Oberschenkeln entwickelte. Gleichzeitig trat ein Kreuzschmerz auf, der sich beim Beugen der Knie oder Treppensteigen verschlimmerte.
In den folgenden Monaten schwankten ihre Symptome erheblich. Manchmal konnte sie normal gehen und sogar laufen, während sie zu anderen Zeiten das Gefühl hatte, ihre Knie seien "blockiert", und sie nicht gehen konnte. Zwei Monate nach Symptombeginn erlitt sie einen ungewöhnlichen Sturz, bei dem sie sich aufgrund der Beinanspannung nicht abfangen konnte, was zu einem Bruch des rechten Arms führte.
Ihre Krankengeschichte umfasste mehrere Autoimmunerkrankungen:
- Vitiligo (eine Erkrankung, die zu Pigmentverlust der Haut führt)
- Ekzem (entzündliche Hauterkrankung)
- Alopecia areata (autoimmunbedingter Haarausfall)
- Morbus Basedow (Autoimmunerkrankung der Schilddrüse) in Remission
- Immunthrombozytopenie (niedrige Thrombozytenzahl), diagnostiziert vor 7 Jahren
Zweieinhalb Jahre vor der Vorstellung ergab eine rheumatologische Untersuchung eine eingeschränkte passive Beugung des linken Knies, ansonsten jedoch einen unauffälligen Befund sowie unauffällige Röntgenaufnahmen von Hüfte und Knie. Eineinhalb Jahre vor der Vorstellung wurde sie nach einer sportmedizinischen Evaluation mit einem patellofemoralen Schmerzsyndrom (Knieschmerz um die Kniescheibe) diagnostiziert, das sich durch Physiotherapie besserte, die Beinsteifheit jedoch bestehen blieb.
Drei Monate vor der Vorstellung bemerkte sie eine zunehmende Beinsteifheit (rechts stärker ausgeprägt), Gangunsicherheit und Angst vor Stürzen. Sie stieß sich am Bein an einem Couchtisch, beide Beine versteiften sich, und sie stürzte, wobei sie mit dem Gesicht auf den Boden aufschlug, ohne das Bewusstsein zu verlieren.
Diagnostische Untersuchungen und Bildgebungsergebnisse
Die Patientin unterzog sich während ihres Diagnosewegs mehreren bildgebenden Verfahren. Eine Magnetresonanztomographie (MRT) der Lendenwirbelsäule ohne Kontrastmittel zeigte:
- Unauffällige paravertebrale Weichteile
- Verstärkung der physiologischen Lendenlordose (Krümmung)
- Erhaltene Wirbelkörperhöhe
- Verlust der normalen Signalintensität im Bandscheibenraum L4-L5 in T2-gewichteten Aufnahmen, vereinbar mit leichter Degeneration
- Starke Bewegungsartefakte schränkten die Beurteilung von Rückenmark und Nervenwurzeln ein
- Kein Hinweis auf hochgradige Spinalkanal- oder Foramenstenose (Verengung)
Eine nachfolgende MRT der Brust- und Lendenwirbelsäule mit Kontrastmittel ergab:
- Keine spezifische Rückenmarksauffälligkeit
- Leichte degenerative Veränderungen der thorakolumbalen Wirbelsäule
- Keine mäßige oder schwere Einengung des Spinalkanals oder der Neuroforamina
- Keine pathologische Kontrastmittelanreicherung
- Mögliche Atrophie der paravertebralen Rückenmuskulatur im unteren Lendenbereich
- Verstärkung der physiologischen Lendenlordose
Laboruntersuchungen zeigten:
- Normale Elektrolyte und Nierenfunktion
- Kreatinkinase-Spiegel: 33 U/l (Normbereich: 26-192)
- C-reaktives Protein: 1 mg/l (Normbereich: 0-10)
- Blutsenkungsgeschwindigkeit: 2 mm/Stunde (Normbereich: 0-20)
Befunde der körperlichen Untersuchung
Bei der Untersuchung in der neurologischen Ambulanz wirkte die Patientin ängstlich, war jedoch nicht akut beeinträchtigt. Ihre Vitalzeichen zeigten:
- Temperatur: 36,6°C
- Blutdruck: 141/91 mm Hg
- Puls: 100 Schläge pro Minute
- Atemfrequenz: 16 Atemzüge pro Minute
- Sauerstoffsättigung: 98% bei Raumluft
- Body-Mass-Index: 21,7
Die neurologische Untersuchung ergab:
- Normale Kraft in Armen und Beinen
- Leicht erhöhten Tonus in den Beinen
- Keine Faszikulationen (Muskelzuckungen)
- Eigene Reflexe: 2+ an den Armen, 3+ an den Beinen
- Nicht anhaltenden Klonus an den Knöcheln (rhythmische Muskelkontraktionen)
- Übersteigerte Schreckreaktion
- Normale Sensibilität
- Eingeschränkte Kniebeugung und breitbasigen Gang beim Gehen
Differenzialdiagnose: Was könnte dies sein?
Das medizinische Team zog mehrere neurologische Erkrankungen in Betracht, die episodische Muskelsteifheit verursachen könnten. Sie bewerteten systematisch Möglichkeiten sowohl aus dem peripheren als auch dem zentralen Nervensystem.
Erkrankungen des peripheren Nervensystems:
- Myotone Erkrankungen: Zustände wie Myotonia congenita und Paramyotonia congenita verursachen Muskelsteifheit aufgrund verzögerter Erschlaffung nach Kontraktion. Diese beginnen jedoch typischerweise in der Kindheit und zeigen spezifische Muster, die bei dieser Patientin nicht beobachtet wurden.
- Syndrome peripherer Nervenübererregbarkeit: Zustände wie Krampf-Faszikulations-Syndrom verursachen Muskelsteifheit, gehen aber mit sichtbaren Muskelzuckungen (Faszikulationen oder Myokymie) einher, die diese Patientin nicht aufwies.
Erkrankungen des zentralen Nervensystems:
- Spastizität: Erhöhter Muskeltonus durch Dysfunktion der oberen Motoneurone, aber die Schwere ist üblicherweise über Untersuchungen hinweg konsistent, anders als die fluktuierenden Symptome dieser Patientin.
- Rigor: Konstanter erhöhter Muskeltonus, wie bei Morbus Parkinson, aber der Patientin fehlten andere parkinsonistische Merkmale wie Tremor oder Bradykinesie.
- Dystonie: Anhaltende Muskelkontraktionen, die zu abnormalen Haltungen führen, aber Symptome sind üblicherweise stereotyp und durch sensorische Tricks zu lindern, was nicht auf diesen Fall zutraf.
- Paroxysmale Dyskinesie: Episodische unwillkürliche Bewegungen, beginnen jedoch typischerweise in der Kindheit mit sehr kurzen Episoden (unter 1 Minute), die mehrmals täglich auftreten.
- Hyperekplexie: Übersteigerte Schreckreaktion gefolgt von Steifheit, aber genetische Formen beginnen im Säuglingsalter.
Zum richtigen Diagnoseergebnis gelangen
Das medizinische Team kam zu dem Schluss, dass das Stiff-person-Syndrom die Symptome der Patientin am besten erklärte. Diese seltene autoimmunologische neurologische Erkrankung ist charakterisiert durch:
- Muskelsteifheit und schmerzhafte Spasmen
- Gangstörungen mit Stürzen
- Übersteigerte Schreckreaktion
- Gestörte GABA-vermittelte Hemmung der Motoneurone
Mehrere Merkmale wiesen spezifisch auf diese Diagnose hin:
- Symptome begannen in paravertebraler und abdominaler Muskulatur, fortschreitend zu proximalen Beinen
- Steifheit ausgelöst durch plötzliche Bewegung, Berührung, emotionale Aufregung und Schreckreaktion
- Übersteigerte Schreckreaktion bei der Untersuchung beobachtet
- Vorgeschichte mehrerer Autoimmunerkrankungen (bei >50% der Stiff-person-Syndrom-Patienten vorhanden)
- Dramatische Besserung unter Benzodiazepin-Behandlung (Lorazepam normalisierte vorübergehend ihren Gang)
- Erhöhte Eigenreflexe (bei 70% der Fälle vorhanden)
- Lumbale Hyperlordose (abnormale Wirbelsäulenkrümmung) in der Bildgebung festgestellt
Das mediane Erkrankungsalter für das Stiff-person-Syndrom liegt bei 35-40 Jahren, und die Symptome dieser Patientin begannen im Alter von 27 Jahren. Ihre umfangreiche Autoimmunvorgeschichte (Vitiligo, Ekzem, Alopecia areata, Morbus Basedow und Immunthrombozytopenie) erhöhte den Verdacht auf eine autoimmunologische neurologische Erkrankung erheblich.
Diagnosebestätigungsprozess
Zur Diagnosebestätigung testete das medizinische Team auf Glutaminsäure-Decarboxylase-65 (GAD65)-Autoantikörper, die bei 60-90% der Patientinnen und Patienten mit klassischem Stiff-person-Syndrum nachweisbar sind. Das Serum der Patientin wurde mittels Radioimmunassay untersucht.
Die Ergebnisse zeigten einen GAD65-Autoantikörperspiegel von 169 nmol pro Liter. Das Testlabor verwendet 20 nmol pro Liter als Grenzwert für neurologische Autoimmunerkrankungen. Der Wert der Patientin von 169 nmol/L liegt im typischen Bereich für Patientinnen und Patienten mit GAD65-Autoantikörper-assoziiertem Stiff-person-Syndrom, wenn im selben Labor getestet.
Es ist wichtig anzumerken, dass GAD65-Autoantikörper auch bei Patientinnen und Patienten mit Typ-1-Diabetes mellitus, Autoimmunthyreoiditis und perniziöser Anämie gefunden werden können, jedoch üblicherweise in niedrigeren Titern als bei neurologischen Autoimmunerkrankungen. Das medizinische Team schloss diese Erkrankungen durch zusätzliche Tests aus, einschließlich normaler HbA1c-Werte (Ausschluss von Typ-1-Diabetes).
Behandlungs- und Therapieansatz
Das medizinische Team besprach, dass sie bei negativem GAD65-Autoantikörpertest andere mit dem Stiff-person-Syndrom assoziierte Autoantikörper in Betracht gezogen hätten, einschließlich:
- Glycinrezeptor-Autoantikörper
- Amphiphysin-Autoantikörper
- Dipeptidyl-Peptidase-ähnliche Protein-6-Autoantikörper
Eine Elektromyographie hätte ebenfalls durchgeführt werden können, um kontinuierliche motorische Einheitenaktivität in paravertebraler Muskulatur oder simultane Kontraktion von Agonisten- und Antagonistenpaaren zu beurteilen, die für das Stiff-person-Syndrom charakteristisch sind.
Ein wichtiger Aspekt der Therapie beinhaltete den Ausschluss paraneoplastischer Syndrome (krebsassoziierte neurologische Erkrankungen). Obwohl relativ ungewöhnlich bei klassischen Stiff-person-Syndrom-Präsentationen, wurden erhöhte GAD65-Autoantikörperspiegel assoziiert mit:
- Brustkrebs
- Lymphom
- Thymom
Die Patientin würde wahrscheinlich ein angemessenes Krebs-Screening benötigen, möglicherweise einschließlich Positronen-Emissions-Tomographie und Computertomographie, um diese assoziierten Malignome auszuschließen.
Was dies für Patientinnen und Patienten bedeutet
Dieser Fall veranschaulicht mehrere wichtige Punkte für Patientinnen und Patienten mit ungeklärten neurologischen Symptomen:
Erstens wird die Diagnose des Stiff-person-Syndroms oft verzögert, weil Symptome mit häufigeren Erkrankungen verwechselt werden können. Die durchschnittliche Zeit bis zur Diagnose beträgt üblicherweise mehrere Jahre, wie bei dieser Patientin, die drei Jahre lang Symptome hatte, bevor sie die richtige Diagnose erhielt.
Zweitens kann der fluktuierende Charakter der Symptome und das Ansprechen auf Benzodiazepine manchmal zu einer Fehlattribution auf psychiatrische Ursachen führen. Viele Patienten mit Stiff-Person-Syndrom haben gleichzeitig Angststörungen, Depressionen oder Agoraphobie, und die Linderung durch Benzodiazepine könnte fälschlicherweise den Eindruck erwecken, dass die Symptome primär psychologisch und nicht neurologisch sind.
Drittens wird das Stiff-Person-Syndrom häufig mit funktionellen neurologischen Störungen verwechselt. Jedoch umfassen wichtige Unterscheidungsmerkmale:
- Übersteigerte Schreckreaktion
- Unklare und verletzungsträchtige Stürze
- Assoziierte systemische Autoimmunität
- Hyperreflexie (gesteigerte Reflexe)
Alle diese Merkmale waren bei dieser Patientin vorhanden und halfen, die richtige Diagnose zu stellen.
Einschränkungen und Überlegungen
Obwohl dieser Fall wertvolle Einblicke bietet, sollten mehrere Einschränkungen berücksichtigt werden. Die Diagnose stützte sich stark auf das Ergebnis des GAD65-Autoantikörpertests, und verschiedene Testmethoden (Radioimmunoassay vs. ELISA vs. gewebebasierter indirekter Immunfluoreszenztest) können signifikant unterschiedliche Werte liefern.
Das dramatische Ansprechen der Patientin auf Benzodiazepine war ein wichtiger diagnostischer Hinweis, jedoch kann ein Ansprechen auf Benzodiazepine auch bei anderen Erkrankungen auftreten, einschließlich einiger funktioneller neurologischer Störungen. Die Kombination mehrerer unterstützender Merkmale war für eine sichere Diagnose erforderlich.
Zusätzlich ist zu beachten, dass zwar die Patientin eine ausgeprägte Autoimmunanamnese hatte, aber nicht alle Patienten mit Stiff-Person-Syndrom ein derart klares autoimmunes Hintergrundprofil aufweisen. Das Fehlen anderer Autoimmunerkrankungen schließt die Diagnose nicht aus.
Empfehlungen für Patientinnen und Patienten
Für Patientinnen und Patienten mit ähnlichen Symptomen legt dieser Fall mehrere wichtige Empfehlungen nahe:
- Bleiben Sie beharrlich in der Suche nach Antworten, wenn sich die Symptome unter initialen Behandlungen nicht bessern oder nicht typischen Mustern entsprechen
- Führen Sie detaillierte Aufzeichnungen über Symptommuster, Auslöser und Ansprechen auf Medikamente
- Erwägen Sie autoimmune Ursachen bei neurologischen Symptomen, insbesondere bei persönlicher oder familiärer Vorgeschichte von Autoimmunerkrankungen
- Erbitten Sie eine fachärztliche Evaluation durch Neurologen mit Erfahrung in Bewegungsstörungen oder autoimmuner Neurologie
- Besprechen Sie geeignete Tests für autoimmune neurologische Erkrankungen, wenn die Symptome auf ein Stiff-Person-Syndrom hindeuten
Für Patientinnen und Patienten mit diagnostiziertem Stiff-Person-Syndrom umfasst die Behandlung typischerweise:
- Benzodiazepine (meist wird Diazepam verwendet)
- Andere GABA-verstärkende Medikamente
- In einigen Fällen Immuntherapie (intravenöse Immunglobuline, Steroide oder andere Immunmodulatoren)
- Physiotherapie mit Fokus auf Sicherheit und Sturzprävention
Quelleninformation
Originaltitel des Artikels: Fall 14-2024: Eine 30-jährige Frau mit Rückenschmerzen, Beinsteifigkeit und Stürzen
Autoren: Christopher T. Doughty, M.D., Pamela W. Schaefer, M.D., Kate Brizzi, M.D., und Jenny J. Linnoila, M.D., Ph.D.
Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 9. Mai 2024;390:1712-9
DOI: 10.1056/NEJMcpc2312733
Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung aus The New England Journal of Medicine. Er bewahrt alle originalen medizinischen Informationen, macht sie jedoch für Patienten und Betreuungspersonen zugänglich.