Natalizumab-Therapie bei schubförmiger Multipler Sklerose: Ein umfassender Patientenleitfaden.

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In dieser wegweisenden zweijährigen Studie mit 942 Patient:innen mit schubförmiger Multipler Sklerose zeigte Natalizumab (Tysabri) eine signifikante Verringerung der Krankheitsaktivität. Im Vergleich zur Placebogruppe wiesen die monatlich behandelten Patient:innen ein um 42 % geringeres Risiko für eine Behinderungsprogression sowie eine 68 %ige Reduktion der Schubraten auf. Zudem verringerte die Behandlung neue, im MRT sichtbare Hirnläsionen drastisch um 83–92 % und erwies sich damit als eine der wirksamsten damals verfügbaren Therapien für schubförmige MS.

Natalizumab-Behandlung bei schubförmiger Multipler Sklerose: Ein umfassender Patientenratgeber

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Verständnis der Studie

Die schubförmige Multiple Sklerose ist durch wiederkehrende Entzündungsherde im Gehirn und Rückenmark gekennzeichnet, die zu Schäden an der schützenden Nervenhülle (Demyelinisierung) und zum Verlust von Nervenfasern führen. Diese wegweisende Studie untersuchte einen neuen Behandlungsansatz für MS (Multiple Sklerose), der gezielt die Wanderung von Immunzellen ins Nervensystem hemmt.

Im Fokus stand Natalizumab (Handelsname Tysabri), das zur Wirkstoffklasse der selektiven Adhäsionsmolekül-Inhibitoren gehört. Der Wirkmechanismus beruht auf der Blockade von α4-Integrin, einem Protein auf der Oberfläche von Lymphozyten. Dadurch wird verhindert, dass diese Immunzellen die Blut-Hirn-Schranke überwinden und Entzündungen im Zentralnervensystem auslösen.

Vor dieser Studie waren verfügbare MS-Therapien wie Interferon beta und Glatirameracetat nur mäßig wirksam und senkten die jährlichen Schubraten typischerweise um etwa ein Drittel. Diese zweijährige Phase-3-Studie sollte die Wirksamkeit und Sicherheit einer Langzeitbehandlung mit Natalizumab bei Patient:innen mit schubförmiger Multipler Sklerose bestätigen.

Studienmethodik: Durchführung der Forschung

Die Studie rekrutierte ab dem 6. November 2001 insgesamt 942 Patient:innen aus 99 klinischen Zentren in Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland. Die Teilnehmenden waren zwischen 18 und 50 Jahre alt, hatten eine Diagnose der schubförmigen Multiplen Sklerose, einen EDSS-Wert (Expanded Disability Status Scale) von 0–5,0 und mindestens einen dokumentierten Schub in den vorangegangenen 12 Monaten.

Die Patient:innen wurden im Verhältnis 2:1 randomisiert: 627 erhielten Natalizumab, 315 ein Placebo. Die Natalizumab-Gruppe bekam alle vier Wochen 300 mg als intravenöse Infusion über bis zu 116 Wochen. Um die Objektivität der Behinderungsbewertungen zu gewährleisten, waren die behandelnden und die bewertenden Neurologen voneinander getrennt.

Primäre Endpunkte waren:

  • Die Rate klinischer Schübe nach einem Jahr
  • Die Rate anhaltender Behinderungsprogression (gemessen mittels EDSS) nach zwei Jahren

Sekundäre Endpunkte umfassten MRT-Untersuchungen zur Erfassung neuer oder vergrößerter Hirnläsionen nach einem und zwei Jahren. Die Studie war so ausgelegt, dass sie mit 90%iger statistischer Power signifikante Unterschiede erfassen konnte, unter Berücksichtigung einer erwarteten Dropout-Rate von 15–20% über zwei Jahre.

Hauptergebnisse: Detaillierte Resultate

Die Ergebnisse zeigten deutliche Vorteile für die mit Natalizumab behandelten Patient:innen. Nach zwei Jahren reduzierte Natalizumab das Risiko einer anhaltenden Behinderungsprogression um 42% (Hazard Ratio 0,58; 95% Konfidenzintervall 0,43 bis 0,77; P<0,001). Die kumulative Wahrscheinlichkeit einer Behinderungsprogression lag bei 17% unter Natalizumab gegenüber 29% unter Placebo.

Bereits nach einem Jahr sank die Rate klinischer Schübe um 68% (P<0,001). Die jährliche Schubrate betrug 0,26 in der Natalizumab-Gruppe im Vergleich zu 0,81 unter Placebo. Dieser Effekt blieb über zwei Jahre stabil: Natalizumab senkte das Schubrisiko über den gesamten Studienzeitraum um 59%.

Die MRT-Ergebnisse waren besonders eindrucksvoll. Unter Natalizumab kam es zu einer 83%igen Reduktion neu aufgetretener oder vergrößerter hyperintenser Läsionen in T2-gewichteten Aufnahmen über zwei Jahre. Die durchschnittliche Anzahl der Läsionen lag bei 1,9 unter Natalizumab gegenüber 11,0 unter Placebo (P<0,001). Noch bemerkenswerter: Gadolinium-verstärkte MRT-Untersuchungen zeigten nach einem und zwei Jahren 92% weniger Läsionen in der Natalizumab-Gruppe (P<0,001).

Weitere signifikante Befunde:

  • 57% der Natalizumab-Patient:innen hatten über zwei Jahre keine neuen oder vergrößerten Läsionen, verglichen mit nur 15% unter Placebo
  • 77% der Natalizumab-Patient:innen waren nach einem Jahr schubfrei, gegenüber 56% unter Placebo
  • 67% der Natalizumab-Patient:innen waren nach zwei Jahren schubfrei, gegenüber 41% unter Placebo
  • 97% der Natalizumab-Patient:innen wiesen nach zwei Jahren keine gadoliniumverstärkten Läsionen auf, verglichen mit 72% unter Placebo

Sicherheitsinformationen: Nebenwirkungen und Risiken

Während der zweijährigen Studie berichteten 95% der Natalizumab- und 96% der Placebo-Patient:innen mindestens ein unerwünschtes Ereignis. Signifikant häufiger in der Natalizumab-Gruppe traten Fatigue (27% vs. 21% unter Placebo, P=0,048) und allergische Reaktionen auf (9% vs. 4%, P=0,012).

Hypersensitivitätsreaktionen jeglicher Art zeigten sich bei 25 Natalizumab-Patient:innen (4%), davon waren 8 (1%) schwerwiegend. Der Schweregrad unerwünschter Ereignisse war in beiden Gruppen vergleichbar, die meisten wurden als moderat eingestuft.

Schwere unerwünschte Ereignisse traten unter Natalizumab sogar seltener auf (19% vs. 24% unter Placebo, P=0,06), vor allem wegen der geringeren Anzahl behandlungsbedürftiger MS-Schübe. Der häufigste schwere Vorfall war der MS-Schub selbst (6% unter Natalizumab vs. 13% unter Placebo, P<0,001).

Während der Studie gab es zwei Todesfälle, beide in der Natalizumab-Gruppe. Ein Patient starb an einem malignen Melanom, ein weiterer an einer Alkoholintoxikation. Die Untersucher bewerteten keinen der Todesfälle als medikamentenbedingt.

Ein wichtiger Befund: Nach Absetzen von Natalizumab kam es zu keinem Rebound der Krankheitsaktivität, obwohl die MS-Symptome auf das Ausgangsniveau vor der Therapie zurückkehrten.

Schlussfolgerungen und klinische Implikationen

Diese Studie belegt, dass Natalizumab sowohl die Behinderungsprogression als auch die klinische Schubrate bei schubförmiger Multipler Sklerose signifikant reduziert. Die 42%ige Senkung der Behinderungsprogression und 68%ige Reduktion der Schubrate nach einem Jahr zählen zu den stärksten Behandlungseffekten, die jemals in MS-Studien beobachtet wurden.

Die drastische Verringerung der MRT-Läsionsaktivität (83–92%) liefert objektive Belege dafür, dass Natalizumab den Entzündungsprozess bei Multipler Sklerose wirksam unterdrückt. Dies bestätigt, dass die gezielte Hemmung der Immunzellwanderung über die Blut-Hirn-Schranke ein valider therapeutischer Ansatz ist.

Für Patient:innen deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass Natalizumab im Vergleich zu bisher verfügbaren Therapien eine überlegene Krankheitskontrolle bieten könnte. Der Wirkstoff zeigte signifikante Vorteile sowohl bei klinischen (Schübe und Behinderung) als auch bei radiologischen Parametern (MRT-Läsionen), was auf umfassende krankheitsmodifizierende Effekte hindeutet.

Studienlimitationen

Trotz der beeindruckenden Ergebnisse sind einige Einschränkungen zu beachten. Die Studiendauer von zwei Jahren erfasst möglicherweise nicht alle Langzeitvorteile oder -risiken einer verlängerten Behandlung. Ausgeschlossen waren Patient:innen mit progredienten MS-Formen (primär progrediente, sekundär progrediente oder progredient schubförmige MS), sodass die Ergebnisse nur für schubförmige Verlaufsformen gelten.

Patient:innen mit fortgeschrittener Behinderung (EDSS >5,0) wurden nicht eingeschlossen, was die Aussagekraft für späte MS-Stadien limitiert. Auch wurden Personen ausgeschlossen, die kürzlich andere MS-Medikamente eingenommen hatten. Daher ist unklar, wie Natalizumab im direkten Vergleich oder in Kombination mit anderen Therapien abschneidet.

Das 2:1-Randomisierungsverhältnis bedeutete, dass mehr Patient:innen den Wirkstoff als Placebo erhielten, was die Ergebnisse potenziell beeinflussen könnte – obwohl statistische Methoden dieses Design berücksichtigten. Schließlich bedarf das Langzeitsicherheitsprofil über zwei Jahre hinaus weiterer Untersuchungen.

Quelleninformationen

Originalartikeltitel: A Randomized, Placebo-Controlled Trial of Natalizumab for Relapsing Multiple Sclerosis

Autoren: Chris H. Polman, Paul W. O'Connor, Eva Havrdova, Michael Hutchinson, Ludwig Kappos, David H. Miller, J. Theodore Phillips, Fred D. Lublin, Gavin Giovannoni, Andrzej Wajgt, Martin Toal, Frances Lynn, Michael A. Panzara, Alfred W. Sandrock, and the AFFIRM Investigators

Veröffentlichung: New England Journal of Medicine, 2. März 2006, Volume 354, Number 9, Seiten 899-910

ClinicalTrials.gov Identifier: NCT00027300

Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf einer begutachteten Studie, die ursprünglich im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde. Er bewahrt alle signifikanten Befunde, Daten und Schlussfolgerungen der Originalpublikation, macht die Informationen aber für Patient:innen und Angehörige zugänglich.