Diese Übersichtsarbeit analysiert die neoadjuvante Chemotherapie (NACT) bei fortgeschrittenem Ovarialkarzinom und kommt zu dem Ergebnis, dass sie zwar das Überleben im Vergleich zur primären Operation nicht verlängert, jedoch chirurgische Komplikationen deutlich verringert und die Lebensqualität verbessert. Zentrale Studien belegen, dass eine NACT mit anschließender Intervalloperation besonders für Patientinnen im Stadium IV oder mit eingeschränkter Operabilität vorteilhaft ist. Der Beitrag thematisiert zudem vielversprechende Kombinationen mit Immuntherapie und hyperthermer intraperitonealer Chemotherapie (HIPEC) und betont die entscheidende Rolle der vollständigen Tumorentfernung, unabhängig vom Zeitpunkt der Operation.
Neoadjuvante Chemotherapie beim fortgeschrittenen Ovarialkarzinom: Neue Perspektiven und Herausforderungen
Inhaltsverzeichnis
- Einführung: Das Ovarialkarzinom verstehen
- Warum eine neoadjuvante Chemotherapie in Betracht ziehen?
- Ergebnisse wichtiger klinischer Studien
- Chirurgische Überlegungen und Ergebnisse
- Lebensqualität und Komplikationen
- Neue Behandlungsansätze
- Wenn die NACT nicht wirkt
- Empfehlungen für Patientinnen
- Studieneinschränkungen
- Zukünftige Forschungsrichtungen
- Quellenangaben
Einführung: Das Ovarialkarzinom verstehen
Das Ovarialkarzinom ist in Industrieländern die tödlichste gynäkologische Krebserkrankung, obwohl es seltener auftritt als Zervix- oder Endometriumkarzinome. Dieser Überblick konzentriert sich auf das fortgeschrittene epitheliale Ovarialkarzinom, das Tumoren der Eierstöcke, Eileiter oder des Bauchfells (Peritoneum) umfasst.
Etwa 90 % der Ovarialkarzinome sind epithelialen Ursprungs, meist mit seröser Histologie. Besorgniserregend ist, dass über 75 % der Patientinnen erst in fortgeschrittenen Stadien (IIIC oder IV) diagnostiziert werden, was die Prognose verschlechtert. Die Überlebensrate hängt direkt vom Stadium bei Diagnosestellung ab, was wirksame Behandlungsstrategien entscheidend macht.
Standardtherapie war bisher die primäre Tumorreduktion (PDS) gefolgt von platinbasierter Chemotherapie. Ziel der Operation ist die Entfernung allen sichtbaren Tumorgewebes, da eine optimale Tumorreduktion (Resttumor < 1 cm) mit einer deutlich verbesserten Gesamtüberlebensrate einhergeht. Allerdings stellt eine ausgedehnte Bauchoperation für viele Patientinnen eine erhebliche Belastung dar.
Warum eine neoadjuvante Chemotherapie in Betracht ziehen?
Die neoadjuvante Chemotherapie (NACT) wird vor statt nach der Operation verabreicht. Dieser Ansatz kommt vor allem bei fortgeschrittenen Erkrankungen zum Einsatz, wenn eine sofortige Operation zu riskant oder unwahrscheinlich erfolgreich im Sinne einer kompletten Tumorentfernung erscheint.
Theoretische Vorteile der NACT sind die Verkleinerung der Tumormasse vor dem Eingriff, was eine vollständigere Resektion ermöglichen kann. Zudem hilft sie, Chemotherapie-sensitive von resistenten Tumoren zu unterscheiden, und liefert so wertvolle Informationen für die weitere Behandlung. Durch die Verringerung der Tumorgröße kann NACT außerdem zu weniger ausgedehnten Operationen mit geringerer Komplikationsrate führen.
Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass NACT die Immuninfiltration und die Expression von Programmed Death Ligand-1 (PD-L1) steigert, eine lokale Immunaktivierung induziert und möglicherweise die Immunogenität von immun-exkludierten hochgradigen serösen Ovarialtumoren erhöht. Diese immunologischen Effekte eröffnen vielversprechende Ansätze für künftige Kombinationstherapien.
Ergebnisse wichtiger klinischer Studien
Mehrere große klinische Studien haben NACT gefolgt von intervallder Tumorreduktion (IDS) mit primärer Tumorreduktion (PDS) und nachfolgender Chemotherapie verglichen:
EORTC-55971-Studie (632 Patientinnen): Diese wegweisende Studie fand keinen Unterschied in der Überlebensrate zwischen beiden Ansätzen. Das mediane Gesamtüberleben betrug 29 Monate in der PDS-Gruppe versus 30 Monate in der NACT-Gruppe. Das progressionsfreie Überleben lag in beiden Gruppen bei 12 Monaten. Die Studie bestätigte, dass das Ausmaß des Resttumors nach der Operation der wichtigste prognostische Faktor ist – unabhängig vom Zeitpunkt des Eingriffs.
CHORUS-Studie (550 Patientinnen): Diese Studie schloss gezielt ältere Patientinnen (medianes Alter 65 Jahre) mit schlechterem Allgemeinzustand ein. Sie zeigte ein medianes Gesamtüberleben von 23,7 Monaten in der IDS-Gruppe versus 25,8 Monaten in der NACT-Gruppe und belegte damit die Nicht-Unterlegenheit des NACT-Ansatzes. Wichtig: NACT gefolgt von IDS führte zu signifikant weniger postoperativen Komplikationen der Schweregrade 3 und 4.
Gepoolte Analyse von EORTC und CHORUS (1.220 Patientinnen): Diese umfassende Analyse lieferte entscheidende Leitlinien für die Therapieauswahl. Sie zeigte, dass PDS der Goldstandard für Frauen mit FIGO-Stadium IIIB oder niedriger bleibt. Für die meisten Patientinnen mit Ovarialkarzinom im Stadium IV sollte jedoch NACT der Standardansatz sein. Bei Stadium IIIC sollten Entscheidungen individualisiert anhand spezifischer Krankheitsmerkmale getroffen werden.
JCOG0602-Studie (301 Patientinnen): Diese japanische Studie wies nach, dass NACT mit geringerer chirurgischer Invasivität einherging, was zu weniger postoperativen unerwünschten Ereignissen und Bluttransfusionen führte. Das mediane Gesamtüberleben betrug 49,0 Monate in der PDS-Gruppe versus 44,3 Monate in der NACT-Gruppe, das progressionsfreie Überleben 15,1 versus 16,4 Monate.
SCORPION-Studie (171 Patientinnen): Diese italienische Studie zeigte signifikant höhere Raten kompletter Resektionen nach NACT (67,0 % versus 47,6 % mit PDS). Das Toxizitätsprofil unterschied sich erheblich: signifikant weniger postoperative Komplikationen im NACT-Arm (9,5 % versus 46,4 %). Es gab keinen Unterschied im medianen progressionsfreien (15 vs. 14 Monate) oder Gesamtüberleben (41 vs. 43 Monate).
Chirurgische Überlegungen und Ergebnisse
Die Fähigkeit, eine vollständige Tumorentfernung (kein sichtbarer Resttumor) zu erreichen, bleibt der wichtigste Überlebensfaktor – unabhängig davon, ob die Operation vor oder nach der Chemotherapie erfolgt. Studien belegen konsistent bessere Ergebnisse für Patientinnen ohne groben Resttumor nach dem Eingriff.
Für optimale Ergebnisse ist spezialisierte chirurgische Expertise entscheidend. Operationen bei Ovarialkarzinom sollten von spezialisierten gynäkologischen Onkologen in Zentren mit hohem Fallaufkommen durchgeführt werden. Die unterschiedlichen Ergebnisse zwischen Ländern und Institutionen in klinischen Studien unterstreichen den Einfluss der chirurgischen Qualität auf den Behandlungserfolg.
Die Anzahl der NACT-Zyklen vor der Operation scheint relevant, obwohl der optimale Zeitpunkt noch nicht standardisiert ist. Einige Studien deuten darauf hin, dass mehr als vier Zyklen NACT die Prognose verschlechtern könnten – die Evidenz bleibt jedoch uneinheitlich. Zwei laufende Phase-III-Studien (GOGER-01 und CHRONO) untersuchen gezielt, ob 3 oder 6 Zyklen NACT bessere Ergebnisse liefern.
Lebensqualität und Komplikationen
Lebensqualitätsaspekte sprechen für den NACT-Ansatz. Die SCORPION-Studie fand statistische Verbesserungen in sechs verschiedenen Lebensqualitätsskalen bei Patientinnen unter NACT im Vergleich zur Primäroperation. Dies legt nahe, dass die Verzögerung eines großen Eingriffs bis nach der Chemotherapie helfen könnte, die tägliche Funktionsfähigkeit und das Wohlbefinden während der Behandlung zu erhalten.
Postoperative Komplikationsraten begünstigen konsistent den NACT-Ansatz:
- EORTC 55971: postoperative Todesfälle 2,5 % bei PDS vs. 0,7 % bei NACT-IDS; Blutungen 7,4 % vs. 4,1 %; Infektionen 8,1 % vs. 1,7 %
- CHORUS: Grad-3- oder -4-Nebenwirkungen 24 % bei PDS vs. 14 % bei NACT-IDS; perioperative Todesfälle 6 % vs. <1 %
- JCOG0602: Grad-3- oder -4-Nebenwirkungen nach Operation 15 % bei PDS vs. 4,6 % bei NACT-IDS
- SCORPION: schwere Komplikationen 46,4 % bei PDS vs. 9,5 % bei NACT-IDS
Eine Metaanalyse von 17 Studien mit 3.759 Patientinnen bestätigte, dass NACT im Vergleich zu PDS mit signifikant geringerer perioperativer Morbidität und 30-Tage-Mortalität einherging.
Neue Behandlungsansätze
Forscher untersuchen mehrere innovative Ansätze zur Steigerung der NACT-Wirksamkeit:
Hypertherme intraperitoneale Chemotherapie (HIPEC): Bei diesem Verfahren wird erwärmte Chemotherapie direkt in die Bauchhöhle während der Operation verabreicht. Die OVHIPEC-Studie zeigte vielversprechende Ergebnisse: Patientinnen mit HIPEC während der intervallden Tumorreduktion erreichten ein medianes Gesamtüberleben von 45,7 gegenüber 33,9 Monaten ohne HIPEC. Fragen zur Patientenselektion und Zentrumsexpertise erfordern jedoch eine vorsichtige Interpretation.
Kombination mit zielgerichteten Therapien: Es laufen Untersuchungen zur Kombination von NACT mit Bevacizumab (hemmt die Blutgefäßbildung), PARP-Inhibitoren (targetieren DNA-Reparaturwege) oder Immuntherapie. Diese Kombinationen müssen noch vollständig evaluiert werden, sind aber vielversprechende Zukunftsoptionen.
Biomarker-Entwicklung: Es besteht dringender Bedarf an Biomarkern zur Individualisierung der Behandlung. Das ACA-125-zu-CEA-Verhältnis (höher als 25) hat sich als nützlich erwiesen, um primäre gastrointestinale Tumore mit Peritoneal- oder Ovarialmetastasen auszuschließen – wichtig vor der NACT-Auswahl.
Wenn die NACT nicht wirkt
Trotz allgemein hoher Ansprechraten progressieren einige Patientinnen mit fortgeschrittenem Ovarialkarzinom unter oder nach NACT. Dies stellt eine erhebliche klinische Herausforderung mit mehreren möglichen Mechanismen dar:
- Schwierigkeiten beim Nachweis von Restkrebszellen während der intervallden Tumorreduktion
- Verstärkung von therapieresistenten Krebsstammzellen
- Induktion von Genmutationen, die Platinresistenz fördern
Für Patientinnen ohne Ansprechen auf NACT ist eine intervallde Tumorreduktion keine Option. Diese Patientinnen mit besonders ungünstiger Prognose gelten typischerweise als platinresistent und benötigen alternative Behandlungsstrategien.
Empfehlungen für Patientinnen
Aktuelle Evidenz empfiehlt NACT gefolgt von intervallder Tumorreduktion für folgende Patientengruppen:
- FIGO-Stadium-IV-Ovarialkarzinom – Standardansatz für die meisten Patientinnen mit Stadium IV
- FIGO-Stadium IIIC, wenn eine sofortige Operation keine optimale Tumorreduktion erwarten lässt
- Patientinnen mit signifikanten Komorbiditäten, die eine sofortige große Operation zu riskant machen
- Ältere Patientinnen und solche mit schlechterem Allgemeinzustand, die den gestaffelten Ansatz besser tolerieren
Die primäre Tumorreduktion bleibt der bevorzugte Ansatz für Patientinnen mit früheren Erkrankungsstadien (FIGO-Stadium IIIB oder niedriger) und solche, die gute chirurgische Kandidatinnen mit komplett resektabel erscheinenden Tumoren sind.
Studieneinschränkungen
Die vorhandenen Studien zum Vergleich von NACT und Primäroperation weisen mehrere Einschränkungen auf, die die Interpretation der Ergebnisse beeinflussen. Viele Studien schlossen Patientinnen aus verschiedenen Zentren ein, die von Chirurgen unterschiedlicher Erfahrungsstufen behandelt wurden – was zu Variabilität in den chirurgischen Ergebnissen führte. Einige Studien wiesen niedrige komplette Zytoreduktionsraten im Primäroperationsarm auf, was die Ergebnisse zugunsten von NACT verzerren könnte.
Die bedeutendste Einschränkung über mehrere Studien hinweg ist die erhebliche Heterogenität zwischen den eingeschlossenen Kohorten, was direkte Vergleiche erschwert. Zudem hatten einige Studien niedrige Rekrutierungsraten an ausgewählten Zentren, was die Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse einschränken könnte.
Viele Studien erforderten keine diagnostische Operation vor der Randomisierung, sodass einige Patientinnen möglicherweise andere Krebsarten aufwiesen. Die EORTC- und CHORUS-Studien adressierten dies durch Verwendung des ACA-125-zu-CEA-Verhältnisses, um gastrointestinale Karzinome zu identifizieren, die als Ovarialkarzinome fehldiagnostiziert worden sein könnten.
Zukünftige Forschungsrichtungen
Mehrere laufende Studien werden weitere Erkenntnisse zur neoadjuvanten Chemotherapie (NACT) bei Eierstockkrebs liefern:
TRUST-Studie: Eine internationale randomisierte kontrollierte Multizenterstudie, die das Gesamtüberleben nach primärer zytoreduktiver Chirurgie versus NACT mit anschließender Intervall-Debulking-Operation untersucht. Die Studie umfasst strenge Qualitätssicherungskriterien für teilnehmende Zentren und schloss die Rekrutierung 2019 ab; Ergebnisse werden für 2024 nach 5 Jahren Nachbeobachtung erwartet.
SGOG SUNNY (SOC-2)-Studie: Eine randomisierte Phase-III-Studie in asiatischen Ländern, die gezielt Limitationen früherer Studien durch hohe chirurgische Qualitätsstandards und Einbeziehung ausschließlich spezialisierter Eierstockkrebszentren überwinden soll.
GOGER-01- und CHRONO-Studien: Diese laufenden randomisierten Phase-III-Studien untersuchen, ob 3 oder 6 Zyklen NACT bessere Ergebnisse erzielen, und adressieren damit eine wichtige offene Frage zur optimalen Behandlungsdauer.
Zukünftige Forschung sollte sich auch auf die Entwicklung besserer Biomarker konzentrieren, um vorherzusagen, welche Patientinnen am meisten von NACT versus Primäroperation profitieren, und welche von innovativen Kombinationen mit zielgerichteten Therapien oder Immuntherapie profitieren könnten.
Quellenangaben
Originalartikeltitel: Neoadjuvante Behandlung bei Eierstockkrebs: Neue Perspektiven, neue Herausforderungen
Autoren: Adamantia Nikolaidi, Elena Fountzilas, Florentia Fostira, Amanda Psyrri, Helen Gogas, Christos Papadimitriou
Veröffentlichung: Frontiers in Oncology, 26. Juli 2022
DOI: 10.3389/fonc.2022.820128
Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung und zielt darauf ab, komplexe medizinische Informationen zugänglich zu machen, während alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und Daten der Originalpublikation erhalten bleiben.