Bei diesem Fall handelt es sich um einen 12-jährigen Jungen mit Autismus, der innerhalb von sechs Wochen eine zunehmend schwere Sehverschlechterung entwickelte. Letztlich wurde eine nutritive Optikusneuropathie infolge multipler Vitamin- und Mineralstoffdefizite diagnostiziert. Seine extrem eingeschränkte Ernährung – ausschließlich bestehend aus Hamburgern, Pommes frites, Donuts und Saft – hatte zu kritisch niedrigen Spiegeln von Vitamin A, Kupfer und Zink geführt. Diese Mangelzustände verursachten Schädigungen des Sehnervs und der Netzhaut, die durch Laboruntersuchungen bestätigt wurden. Nach einer gezielten Nahrungsergänzung besserte sich seine Sehkraft deutlich. Dieser Verlauf unterstreicht, wie selektives Essverhalten bei Autismus zu schwerwiegenden medizinischen Komplikationen führen kann.
Schwerer Sehverlust bei autistischem Kind infolge von Nährstoffmangel
Inhaltsverzeichnis
- Hintergrund: Bedeutung dieses Falls
- Fallvorstellung: Die Krankengeschichte
- Anamnese und Lebensstilfaktoren
- Befunde der körperlichen Untersuchung
- Labor- und Bildgebungsergebnisse
- Differenzialdiagnose: Mögliche Ursachen des Sehverlusts
- Endgültige Diagnose und bestätigende Tests
- Diskussion: Sehverlust bei Kindern
- Klinische Implikationen für Patienten und Familien
- Einschränkungen dieser Fallstudie
- Empfehlungen für Familien
- Quelleninformation
Hintergrund: Bedeutung dieses Falls
Dieser Fall aus dem Massachusetts General Hospital zeigt, wie gravierende Nährstoffdefizite zu schwerwiegendem Sehverlust führen können – insbesondere bei Kindern mit Autismus, die häufig sehr wählerische Essgewohnheiten aufweisen. Obwohl in Industrieländern selten, stellt die nutritive Optikusneuropathie eine vermeidbare Erblindungsursache dar, die sowohl Familien als auch medizinischem Fachpersonal bekannt sein sollte. Der Fall verdeutlicht, wie mehrere Nährstoffmängel gleichzeitig auftreten und erhebliche neurologische Schäden verursachen können.
Fallvorstellung: Die Krankengeschichte
Ein 12-jähriger Junge mit Autismus-Spektrum-Störung wurde aufgrund einer stark verminderten Sehkraft auf beiden Augen stationär aufgenommen. Seine Sehprobleme hatten sechs Wochen vor der Aufnahme begonnen und zeigten ein charakteristisches Muster: morgens verschlechtert, im Tagesverlauf gebessert und abends erneut verschlechtert.
Drei Wochen vor der Aufnahme berichtete er seinen Eltern von den Sehveränderungen. Diese suchten mit ihm eine augenoptische Praxis auf, doch wurden keine Brillen verordnet. In den folgenden drei Wochen verschlechterte sich sein Sehvermögen erheblich.
Vier Tage vor der Aufnahme fiel den Eltern auf, dass er sich beim Gehen stark an ihnen festhielt. Zwei Tage vor der Aufnahme begann er, gegen Türen und Wände zu laufen. Am Aufnahmetag wachte er schreiend und panisch auf, weil er gar nichts mehr sehen konnte, woraufhin seine Eltern ihn in die Notaufnahme brachten.
Zum Zeitpunkt der Untersuchung hatte sich sein Sehvermögen leicht gebessert, blieb aber stark eingeschränkt. Er beschrieb eine „Verdunkelung“ seines Gesichtsfelds, die links stärker ausgeprägt war. Er konnte Umrisse und Farben erkennen, hatte jedoch Schwierigkeiten, Bewegungen und Objektdetails zu erfassen.
Anamnese und Lebensstilfaktoren
Der Patient hatte eine komplexe Krankengeschichte mit Frühgeburt in der 28. Schwangerschaftswoche, perinataler Hypoxie (Sauerstoffmangel um die Geburt), Autismus-Spektrum-Störung und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Er zeigte Entwicklungsverzögerungen in Sprache, Kognition und Feinmotorik.
Seine Medikation umfasste Risperidon; bekannte Arzneimittelallergien bestanden nicht. Er hatte alle Routineimpfungen im Kindesalter erhalten. Die Familie war 10 Monate vor der Aufnahme von einem städtischen in einen ländlichen Bereich in New England gezogen.
Entscheidend war, dass der Patient als „wählerischer Esser“ beschrieben wurde mit einer extrem eingeschränkten Ernährung, die fast ausschließlich bestand aus:
- Hamburgern
- Pommes frites
- Ranch-Dressing
- Glasierte Donuts
- Saftpackungen
Er vermied es, neue Lebensmittel zu probieren, und nahm keine Vitaminpräparate ein, da er deren Geschmack oder Textur ablehnte. Dieses stark eingeschränkte Ernährungsmuster bestand bereits über einen längeren Zeitraum vor Symptombeginn.
Befunde der körperlichen Untersuchung
Bei der Untersuchung waren die Vitalparameter normal: Temperatur 36,2°C, Blutdruck 104/71 mm Hg, Herzfrequenz 94 Schläge pro Minute, Sauerstoffsättigung 98%. Seine Körpergröße betrug 156 cm (70. Perzentile), Gewicht 40,3 kg (38. Perzentile) und Body-Mass-Index (BMI) 16,6.
Wichtige Untersuchungsbefunde umfassten:
- Visus auf Handbewegungen beidseits eingeschränkt (extrem schlechtes Sehvermögen)
- Leichte periorbitale Schwellung (Schwellung um die Augen)
- Verhornung der Konjunktiva beidseits (abnormale Austrocknung und Verdickung der Augapfeloberfläche)
- Blässe der Papille beidseits (hinweisend auf Sehnervenschädigung)
- Zehengang und Hilfebedarf beim Gehen
- Querriefelung der Zehennägel (sogenannte Beau-Linien, oft assoziiert mit Nährstoffmängeln)
- Verstreute Hämatome an Armen und Beinen
- Blasses Erscheinungsbild
Labor- und Bildgebungsergebnisse
Laboruntersuchungen zeigten mehrere Auffälligkeiten, wie in Tabelle 1 dargestellt. Bemerkenswerte Befunde umfassten ein Hämoglobin von 12,3 g/dl (niedrig-normal), erhöhte alkalische Phosphatase von 422 U/Liter, niedriges Albumin von 3,6 g/dl, niedriges Gesamteiweiß von 5,9 g/dl und eine erhöhte Prothrombinzeit von 17,1 Sekunden mit INR von 1,4 (hinweisend auf mögliche Gerinnungsstörungen).
Die Magnetresonanztomographie (MRT) von Kopf und Orbitae zeigte subtile Hyperintensitäten (Aufhellungen) der mittleren intraorbitalen Abschnitte beider Sehnerven in flüssigkeitssensitiven Sequenzen, was auf Entzündung oder Schädigung hindeutet. Die Bildgebung zeigte ebenfalls eine diffuse heterogene Verdickung des Kalvariums (Schädelknochens).
Nach Kontrastmittelgabe zeigte sich keine Anreicherung, was viele entzündliche oder infektiöse Prozesse ausschloss. Es wurden keine komprimierenden Läsionen oder Tumore identifiziert.
Differenzialdiagnose: Mögliche Ursachen des Sehverlusts
Das Behandlungsteam erwog multiple mögliche Ursachen für den Sehverlust des Patienten und bewertete systematisch jede Kategorie:
Autoimmun- oder Entzündungserkrankungen
Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung und Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-Antikörper-Erkrankung wurden erwogen, aber als unwahrscheinlich eingestuft, da diese typischerweise zu rascherem Sehverlust mit Augenschmerzen und Papillenschwellung führen, die bei diesem Fall fehlten.
Genetische Erkrankungen
Genetische Erkrankungen wie autosomal-dominante Optikusatrophie oder Lebersche hereditäre Optikusneuropathie waren möglich, aber weniger wahrscheinlich angesichts der raschen Progression und Schwere des Sehverlusts, die für diese Erkrankungen uncharakteristisch ist.
Toxine
Eine toxische Optikusneuropathie durch Medikamente oder Umweltgifte wurde erwogen, aber als unwahrscheinlich eingestuft, da keine Exposition gegenüber bekannten Sehnervengiften wie Ethambutol, Methanol oder Schwermetallen bestand.
Nährstoffmängel
Diese Kategorie erschien am wahrscheinlichsten angesichts der extrem eingeschränkten Ernährung des Patienten. Spezifisch erwogene Nährstoffdefizite umfassten:
- Vitamin-A-Mangel: Könnte Nachtblindheit, Konjunktivalveränderungen und Sehnervenschädigung erklären
- Kupfermangel: Könnte Optikusneuropathie und neurologische Symptome verursachen
- Zinkmangel: Könnte zu Sehproblemen beitragen und die Nagelveränderungen erklären
- Vitamin-B12-Mangel: Weniger wahrscheinlich bei normalem neurologischem Befund und fehlender Anämie
Das Behandlungsteam merkte an, dass Nährstoffmängel bei Patienten mit selektiven Essmustern oft gemeinsam auftreten, insbesondere bei Autismus-Spektrum-Störung.
Endgültige Diagnose und bestätigende Tests
Die endgültige Diagnose war nutritive Optikusneuropathie aufgrund multipler Nährstoffdefizite, spezifisch Vitamin-A-, Kupfer- und Zinkmangel.
Diagnostische Tests bestätigten schwer deficiente Spiegel von:
- Vitamin A: Weniger als 5,0 μg/dl (Referenzbereich: 12,8–81,2 μg/dl)
- Kupfer: 46 μg/dl (Referenzbereich: 75–145 μg/dl)
- Zink: 61 μg/dl (Referenzbereich: 66–110 μg/dl)
Der Patient hatte ebenfalls schwere Defizite an 25-Hydroxyvitamin D und Vitamin C, was multiple nutritive Defizite infolge seiner extrem eingeschränkten Ernährung bestätigte.
Diskussion: Sehverlust bei Kindern
Sehbeeinträchtigungen bei Kindern sind relativ ungewöhnlich und betreffen etwa 8% der Fälle in großen Studien. Wenn schwerer Sehverlust auftritt, wird er am häufigsten auf vererbte Augenerkrankungen oder Optikusatrophie verschiedener Ursachen zurückgeführt.
In Studien zu Optikusatrophie bei Kindern sind die häufigsten Ursachen:
- Tumore (29% der Fälle in einer Studie)
- Frühgeburtlichkeit und assoziierte Komplikationen (16% in aktuellen Studien)
- Hydrozephalus und andere neurologische Erkrankungen
Nutritive Ursachen von Optikusneuropathie sind in Industrieländern außergewöhnlich selten und machen in den meisten Studien weniger als 1% der Fälle aus. Dies macht den vorliegenden Fall besonders bemerkenswert, da er zeigt, wie selektive Essmuster bei Kindern mit Autismus zu schweren Nährstoffdefiziten mit ernsthaften neurologischen Konsequenzen führen können.
Klinische Implikationen für Patienten und Familien
Dieser Fall hat mehrere wichtige Implikationen für Familien, insbesondere solche mit Kindern mit selektiven Essgewohnheiten:
Erstens können extrem eingeschränkte Diäten zu ernsthaften medizinischen Komplikationen führen, inklusive permanentem Sehverlust. Die in diesem Fall beteiligten Nährstoffe—Vitamin A, Kupfer und Zink—sind essentiell für normale neurologische Funktion und Sehvermögen.
Zweitens sind Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung besonders gefährdet für Nährstoffdefizite aufgrund ihrer häufigen Nahrungsmittelaversionen und sensorischen Sensitivitäten gegenüber Lebensmitteltexturen und -geschmäckern.
Drittens kann das Muster der Sehveränderungen (morgens schlechter, im Tagesverlauf bessernd) charakteristisch für bestimmte Formen von Optikusneuropathien sein und sollte eine dringliche medizinische Abklärung veranlassen.
Schließlich sind Nährstoffdefizite bei frühzeitiger Identifikation behandelbar, aber verzögerte Diagnose kann zu permanenten Schäden führen wie in diesem Fall geschehen.
Einschränkungen dieser Fallstudie
Als Einzelfallbericht hat diese Studie mehrere Einschränkungen. Die Befunde repräsentieren die Erfahrung eines Individuums und sind möglicherweise nicht auf alle Patienten mit ähnlichen Symptomen übertragbar.
Der Autismus des Patienten und Kommunikationsschwierigkeiten limitierten einige Aspekte der Untersuchung und Testung. Kooperationsschwierigkeiten verhinderten eine vollständige Netzhautuntersuchung und detailliertere Sehtests, die zusätzliche diagnostische Informationen hätten liefern können.
Der Fall etabliert ebenfalls nicht, wie verbreitet solche schweren Nährstoffdefizite bei Kindern mit selektiven Essmustern sind, noch bestimmt er die exakte Dauer des Defizits, die benötigt wird, um solche schweren Symptome zu verursachen.
Empfehlungen für Familien
Basierend auf diesem Fall sollten Familien mit Kindern mit restriktiven Essmustern Folgendes in Betracht ziehen:
- Regelmäßige ernährungsmedizinische Überwachung: Kinder mit extrem eingeschränkter Ernährung sollten regelmäßige Blutuntersuchungen erhalten, um Vitamin- und Mineralstoffmängel zu überprüfen.
- Professionelle ernährungstherapeutische Unterstützung: Zusammenarbeit mit Ernährungsberatern oder Diätassistenten, die auf Ernährungsprobleme spezialisiert sind, um die Lebensmittelvielfalt sicher zu erweitern.
- Vitaminergänzung: Geeignete Vitaminpräparate unter ärztlicher Anleitung in Betracht ziehen, auch wenn Kinder sie aufgrund von Textur- oder Geschmacksproblemen ablehnen.
- Sehmonitoring: Achten Sie auf Veränderungen des Sehverhaltens, insbesondere auf Beschwerden über verschwommenes Sehen, Nachtblindheit oder Veränderungen der Sehschärfe.
- Frühzeitige medizinische Abklärung: Suchen Sie bei plötzlichen oder fortschreitenden Sehveränderungen umgehend medizinische Hilfe auf, da frühes Eingreifen dauerhafte Schäden verhindern kann.
Bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung kann die Zusammenarbeit mit Ernährungsspezialisten, die sensorische Probleme verstehen, helfen, die Lebensmittelakzeptanz schrittweise zu erweitern und gleichzeitig den Nährstoffbedarf zu decken.
Quelleninformation
Originalartikeltitel: Fall 25-2024: Ein 12-jähriger Junge mit Autismus und verminderter Sehkraft
Autoren: Eric D. Gaier, M.D., Ph.D., Camilo Jaimes, M.D., Ryan A. Gise, M.D., Amy E. Armstrong-Javors, M.D., und Sarah M. Kadzielski, M.D.
Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 15. August 2024; 391:641-50
DOI: 10.1056/NEJMcpc2309726
Dieser patientengerechte Artikel basiert auf begutachteter Forschung aus den Fallakten des Massachusetts General Hospital. Er behält alle wesentlichen medizinischen Befunde, Laborwerte und klinischen Details der Originalpublikation bei, macht die Informationen jedoch für Patienten und Familien zugänglich.