Fall 15: Verständnis eines komplexen Herzfalls – Atemnot nach vorangegangenem Herzinfarkt

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Bei diesem Fall handelt es sich um einen 69-jährigen Mann mit einer komplexen kardialen Vorgeschichte, der plötzlich Atemnot, Herzrasen und Übelkeit entwickelte. Trotz vorangegangener Herzinfarkte, einer Herzinsuffizienz und eines implantierten Defibrillators zogen die Ärzte zunächst mehrere mögliche Ursachen in Betracht. Erst durch eine sorgfältige Analyse seines Herzrhythmus gelang die definitive Diagnosestellung. Der Fall zeigt, wie subtile Symptome auf schwerwiegende Herzerkrankungen hindeuten können, und veranschaulicht den differenzialdiagnostischen Prozess bei der Abklärung von Herzrhythmusstörungen.

Komplexer Herzfall verstehen: Atemnot nach Herzinfarkt

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund: Warum dieser Fall relevant ist

Diese detaillierte Fallstudie des Massachusetts General Hospital zeigt, wie Ärzte komplexe Herzerkrankungen bei Patienten mit umfangreicher Vorgeschichte angehen. Der Patient litt unter mehreren schwerwiegenden Herzproblemen, darunter vorangegangene Herzinfarkte, Herzinsuffizienz und gefährliche Herzrhythmusstörungen, die einen implantierten Defibrillator notwendig machten.

Wenn solche Patienten neue Symptome wie Atemnot entwickeln, wird die Diagnosefindung besonders anspruchsvoll. Ärzte müssen die Dringlichkeit potenziell lebensbedrohlicher Zustände gegen die Notwendigkeit abwägen, alle möglichen Ursachen sorgfältig zu prüfen.

Dieser Fall ist besonders relevant für Patienten mit ähnlicher kardialer Vorgeschichte, da er zeigt, wie subtile Symptome auf ernste Probleme hinweisen können, die sofortige Aufmerksamkeit erfordern. Der dargestellte diagnostische Denkprozess hilft Patienten zu verstehen, wie Ärzte in ähnlichen Situationen vorgehen könnten.

Patientenanamnese und medizinischer Hintergrund

Der Patient war ein 69-jähriger Mann mit einer umfangreichen kardialen Vorgeschichte über mehrere Jahrzehnte. Seine Herzprobleme begannen ungewöhnlich früh: Den ersten Myokardinfarkt erlitt er bereits in seinen Dreißigern.

Seine Krankengeschichte umfasste:

  • Vorzeitige koronare Herzkrankheit mit erstem Herzinfarkt in den 30ern
  • Koronare Bypass-Operation (CABG) und Stentimplantation in den 50ern
  • Ischämische Kardiomyopathie mit chronisch reduzierter Ejektionsfraktion von 31%
  • Ventrikuläre Tachykardie (gefährlich schneller Herzrhythmus) mit nachfolgendem Herzstillstand
  • Implantierbarer Kardioverter-Defibrillator (ICD) vor 3 Jahren
  • Biologischer Mitralklappenersatz mit nachfolgender Klappendegeneration
  • Transkatheter-Valve-in-Valve-Ersatz vor 2,5 Jahren
  • Lungenembolie vor 4 Jahren
  • Hypertonie, Eisenmangelanämie und weitere Erkrankungen

Seine Medikation war komplex und umfasste Aspirin, Coumadin (Warfarin), Furosemid, Metoprolol, Lisinopril, Dapagliflozin, Ranolazin, Atorvastatin und weitere Präparate.

Bemerkenswerterweise hatte er Amiodaron sechs Monate vor der Vorstellung aufgrund auffälliger Leberwerte abgesetzt. Sein letztes Echokardiogramm zeigte eine linksventrikuläre Ejektionsfraktion von 31% mit signifikanten Wandbewegungsstörungen.

Aktuelle Symptome und Untersuchungsbefunde

Zwei Tage vor dem Klinikbesuch traten plötzlich Symptome auf. Bei der Arbeit und beim Tragen von Kisten entwickelte der Patient Belastungsdyspnoe, die stärker war als gewohnt.

Normalerweise war er nach zwei bis drei Stockwerken kurzatmig, doch nun traten die Symptome bereits bei minimaler Aktivität auf. Am Folgetag kamen Palpitationen und ein anhaltendes Benommenheitsgefühl hinzu.

Weitere Symptome:

  • Übelkeit mit gelegentlichem Würgereiz
  • Appetitverlust (über den Tag nur eine Scheibe Käse)
  • Müdigkeit und allgemeines Unwohlsein
  • Verschwommensehen am rechten Auge

Wichtig: Er berichtete keine Brustschmerzen, keine Präsynkope oder Bewusstlosigkeit, keine ICD-Entladung, keine Ödeme, Orthopnoe oder andere alarmierende Symptome.

Die körperliche Untersuchung ergab:

  • Herzfrequenz: 124/min (deutlich erhöht)
  • Blutdruck: 84/59 mmHg im Sitzen, 99/67 mmHg im Liegen (niedrig)
  • Temperatur: 35,7°C (leicht erniedrigt)
  • Sauerstoffsättigung: 99% bei Raumluft (normal)
  • Erscheinungsbild: schwitzig und feuchtkalt, aber wach und orientiert
  • Herztöne: möglicher S3-Ton (bei Herzinsuffizienz), minimale basale Rasselgeräusche
  • Extremitäten: leichte symmetrische Fußödeme

Laborwerte von vor zwei Wochen waren überwiegend unauffällig: Natrium 139 mmol/L, Kalium 4,1 mmol/L, Kreatinin 0,91 mg/dL, Hämatokrit 44,0%, NT-proBNP 669 pg/mL. Sein INR-Wert lag bei 2,9 – therapeutisch für seinen Zustand.

Diagnostisches Vorgehen in der Primärversorgung

Die Ärzte standen vor der Herausforderung, diesen komplexen Patienten in der Primärversorgung einzuschätzen. Sie erkannten, dass die Klinikumgebung möglicherweise nicht für instabile Herz Zustände ausgerüstet war, und mussten entscheiden, ob eine sofortige Verlegung in die Notaufnahme nötig war.

Der diagnostische Ansatz konzentrierte sich auf mehrere Schlüsselaspekte. Zunächst würdigten die Ärzte die besorgniserregende Anamnese mit ventrikulärer Tachykardie und ischämischer Kardiomyopathie – beides dynamische und gefährliche Zustände, die sofortiges Handeln erfordern.

Gleichzeitig blieben sie offen für andere diagnostische Möglichkeiten und vermieden eine Fixierung auf die offensichtlichen Herzprobleme. Dieser ausgewogene Ansatz ist bei komplexen Fällen entscheidend, bei denen mehrere Ursachen infrage kommen.

Die initiale Evaluation priorisierte die hämodynamische Stabilität angesichts von erhöhter Herzfrequenz und niedrigem Blutdruck. Trotz dieser Warnzeichen blieb der Patient wach und klar, was auf eine ausreichende Gehirndurchblutung hindeutete.

Die körperliche Untersuchung lieferte weitere Hinweise: Das Fehlen signifikanter Zeichen der Volumenüberladung (nur minimale Ödeme und Rasselgeräusche) und warme Haut ohne verengten Pulsdruck lenkten die differentialdiagnostischen Überlegungen.

Differentialdiagnose: Abwägung aller Möglichkeiten

Die Ärzte erwogen systematisch verschiedene Ursachen für die Symptome und ordneten sie nach Organsystemen.

Kardiale Ursachen:

  • Arrhythmie – besonders wahrscheinlich bei seiner Vorgeschichte
  • Dekompensierte Herzinsuffizienz
  • Akutes Koronarsyndrom
  • Klappendysfunktion

Pulmonale Ursachen: Lungenembolie erschien unwahrscheinlich bei therapeutischem INR unter Warfarin und ohne vergessene Dosen. Ein Pneumothorax wurde erwogen, aber es fehlten typische Symptome.

Andere Ursachen: Akute Anämie war möglich, doch fehlte eine Blutungsanamnese. Metabolische Ursachen wie Schilddrüsenprobleme kamen infrage, da Amiodaron die Schilddrüsenfunktion beeinflussen kann.

Die Ärzte beachteten die gastrointestinalen und visuellen Symptome, erwogen jedoch, ob diese auf eine einheitliche Diagnose hindeuteten. Der chronische Charakter der Sehstörungen und das Fehlen abdominaler Auffälligkeiten machten gastrointestinale oder neurologische Ursachen weniger wahrscheinlich.

Nach gründlicher Abwägung blieb die Arrhythmie, speziell eine langsame ventrikuläre Tachykardie, die wahrscheinlichste Diagnose – besonders vor dem Hintergrund der Vorgeschichte und des recenten Amiodaron-Absetzens.

EKG-Analyse und endgültige Diagnose

Entscheidend war das während des Klinikbesuchs durchgeführte Elektrokardiogramm (EKG). Es zeigte eine regelmäßige breitkomplexe Tachykardie, die auf eine ventrikuläre Tachykardie hindeutete.

Die Ärzte wandten die Brugada-Kriterien an, einen etablierten Algorithmus zur Unterscheidung von ventrikulärer Tachykardie. Das EKG erfüllte mehrere Schlüsselkriterien:

  • RS-Intervall von etwa 130 Millisekunden in bestimmten Ableitungen (normal <100 ms)
  • Hinweise auf atrioventrikuläre Dissoziation
  • Spezifische QRS-Morphologie außerhalb normaler Leitungsmuster
  • Extreme Nordwest-Achse

Zusätzlich fand sich ein Fusionsschlag (siebter Schlag in der Aufzeichnung), der auftritt, wenn das Herz gleichzeitig durch den abnormalen Rhythmus und einen normalen Schlag aktiviert wird. Intrakardiale Elektrogramme des ICD bestätigten die Diagnose und zeigten klare atrioventrikuläre Dissoziation.

Die endgültige Diagnose lautete auf langsame ventrikuläre Tachykardie – eine potenziell gefährliche Arrhythmie, die die beschriebenen Symptome (Atemnot, Palpitationen, Benommenheit, Übelkeit) durch reduziertes Herzzeitvolumen verursachen kann.

Klinische Implikationen für Patienten

Dieser Fall hat mehrere wichtige Implikationen für Patienten mit ähnlicher kardialer Anamnese. Er zeigt, dass selbst subtile Symptomveränderungen auf ernste Herzprobleme hinweisen können, die prompte Aufmerksamkeit erfordern.

Patienten mit komplexer kardialer Vorgeschichte sollten besonders achtsam sein bei:

  • Neuer oder verschlechterter Atemnot, besonders bei minimaler Belastung
  • Palpitationen oder verändertem Herzrhythmusgefühl
  • Benommenheit oder Schwindel
  • Unerklärlicher Übelkeit oder gastrointestinalen Symptomen
  • Veränderter Belastbarkeit oder Alltagskapazität

Der Fall unterstreicht die Bedeutung der Medikamentenadhärenz, besonders bei Blutverdünnern wie Warfarin, und regelmäßiger kardiologischer Nachsorge. Das recente Absetzen von Amiodaron könnte zum Wiederauftreten der ventrikulären Tachykardie beigetragen haben.

Für Patienten mit implantierten Devices wie ICDs sind regelmäßige Gerätekontrollen essenziell. Dieser Patient hatte seine letzte ICD-Kontrolle drei Monate zuvor – innerhalb angemessener Intervalle.

Einschränkungen dieser Fallanalyse

Obwohl dieser Fall wertvolle Einblicke bietet, sind seine Einschränkungen zu beachten. Es handelt sich um eine einzelne Fallstudie, deren Ergebnisse nicht verallgemeinert werden können.

Der Diagnoseprozess erfolgte in einem spezialisierten akademischen Zentrum mit entsprechender Expertise. Die sofortige Verfügbarkeit von EKG und Erfahrung in der Interpretation komplexer Arrhythmien ist nicht überall gegeben.

Einige diagnostische Tests wie Schilddrüsenfunktionsuntersuchungen waren bei der Erstuntersuchung nicht verfügbar. Der chronische Charakter mancher Symptome (wie der Sehstörungen) erschwerte die Interpretation.

Der Fall zeigt, wie erfahrene Kliniker durch Mustererkennung und Erfahrung zu präzisen Diagnosen gelangen – was in weniger spezialisierten Einrichtungen schwerer nachvollziehbar sein mag.

Patientenempfehlungen und Handlungsschritte

Basierend auf diesem Fall sollten Patienten mit ähnlicher kardialer Vorgeschichte folgende Empfehlungen beachten:

  1. Suchen Sie umgehend medizinische Hilfe bei neuen oder sich verschlechternden kardialen Symptomen, insbesondere Dyspnoe, Palpitationen oder Schwindel
  2. Führen Sie regelmäßige Nachsorgetermine mit Kardiologe und Hausarzt durch, inklusive Gerätekontrollen bei ICD
  3. Halten Sie sich strikt an die Medikamenteneinnahme, besonders bei Antikoagulanzien und Antiarrhythmika
  4. Führen Sie detaillierte Symptomtagebücher mit Zeitpunkt, Auslösern, begleitenden Symptomen
  5. Verstehen Sie Ihre Herzerkrankung und Warnzeichen einer Verschlechterung
  6. Erstellen Sie einen Aktionsplan für Symptomauftritt, inklusive Entscheidungskriterien für Notaufnahme vs. Arztkontakt

Für Patienten mit implantierten Devices ist es wichtig, die Funktionsweise zu verstehen und zu wissen, was bei Arrhythmie-Erkennung oder -Behandlung zu erwarten ist. Regelmäßige Device-Kontrollen sind essenziell.

Quellenangaben

Originaltitel: Case 34-2024: A 69-Year-Old Man with Dyspnea after Old Myocardial Infarction

Autoren: Kevin Heaton, M.D., Emily K. Zern, M.D., Aferdita Spahillari, M.D., and Conor D. Barrett, M.D.

Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 31. Oktober 2024

DOI: 10.1056/NEJMcpc2402505

Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung aus den Case Records des Massachusetts General Hospital. Die ursprüngliche Falldiskussion involvierte mehrere Fachärzte, die zur diagnostischen Reasoning und Analyse beigetragen haben.