Eine umfassende Befragung von 34 führenden Experten für neuroendokrine Tumoren aus 20 internationalen Zentren zeigt erhebliche Unterschiede in der Behandlung von Lungenkarzinoiden weltweit. Die Fachleute identifizierten erhebliche Konsenslücken bei chirurgischen Eingriffen, dem Einsatz adjuvanter Therapien nach Operationen sowie bei Langzeitüberwachungsprotokollen. Die Studie betont den dringenden Bedarf an spezialisierten multidisziplinären Teams und belegt eine deutliche Unterstützung (91 %) für die Durchführung klinischer Studien zur Entwicklung evidenzbasierter Leitlinien für diese seltenen Tumoren, insbesondere bei Hochrisikopatienten mit einer 5-Jahres-Überlebensrate von nur 50–70 %.
Lungenkarzinoidtumoren verstehen: Aktuelle Praxis und Zukunftsperspektiven in spezialisierten Zentren
Inhaltsverzeichnis
- Einführung: Was sind Lungenkarzinoidtumoren?
- Methodik der Studie
- Detaillierte Umfrageergebnisse: Aktuelle Praxis
- Bedeutung für Patienten
- Studieneinschränkungen
- Empfehlungen für Patienten
- Quellenangaben
Einführung: Was sind Lungenkarzinoidtumoren?
Lungenkarzinoidtumoren sind seltene neuroendokrine Tumoren, die von spezialisierten Zellen im bronchopulmonalen Trakt ausgehen. Sie machen nur 1–3 % aller Lungenkrebserkrankungen aus, stellen jedoch etwa 30 % aller neuroendokrinen Tumoren im Körper dar. In den letzten Jahren ist die Zahl der Diagnosen sowohl typischer als auch atypischer Lungenkarzinoide gestiegen, vermutlich aufgrund verbesserter Nachweismethoden und größerer Aufmerksamkeit in der Fachwelt.
Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet mittlerweile drei Hauptkategorien von Lungenkarzinoiden. Die jüngste Klassifikation umfasst eine Untergruppe mit atypischer Morphologie, die durch eine erhöhte mitotische Aktivität (mehr als 10 Zellteilungen pro 2 mm²) und/oder einen Ki67-Markierungsindex über 30 % gekennzeichnet ist – Hinweise auf eine schnellere Zellteilung. Diese Unterscheidung ist klinisch relevant, da die 5-Jahres-Überlebensrate bei atypischen Karzinoiden trotz adäquater Chirurgie nur bei 50–70 % liegt und damit deutlich unter der von typischen Karzinoiden mit etwa 90 %.
Patienten mit Lungenkarzinoiden leiden häufig unter Symptomen wie Husten, Bluthusten oder wiederkehrenden Atemwegsinfektionen. Ein erheblicher Teil dieser Tumoren wird jedoch zufällig bei bildgebenden Untersuchungen für andere Erkrankungen entdeckt. Im Vergleich zu anderen Lungenkrebsarten werden neuroendokrine Lungentumoren typischerweise bei jüngeren Patienten diagnostiziert, zeigen eine leichte Bevorzugung des weiblichen Geschlechts und exprimieren oft Somatostatinrezeptoren, die für gezielte Therapien genutzt werden können.
Methodik der Studie
Um den Mangel an Konsens bei der Behandlung von Lungenkarzinoidtumoren zu adressieren, initiierte die Europäische Gesellschaft für neuroendokrine Tumoren (ENETS) eine umfassende Befragung von Expertenzentren. Die im Juli 2021 gegründete ENETS-Lungen-NET-Taskforce brachte ein internationales Team aus Chirurgen, medizinischen Onkologen, Pathologen, Molekularbiologen, Endokrinologen, Radiologen, Nuklearmedizinern und Gastroenterologen zusammen.
Die Entwicklung der Umfrage erfolgte in mehreren Schritten: Zunächst identifizierten die Taskforce-Mitglieder in vorbereitenden Treffen Schlüsselbereiche mit Unsicherheiten im Management von Frühstadien. Anschließend wurden Fragen von zwei Hauptuntersuchern erstellt und in drei weiteren Treffen von allen Mitgliedern überprüft und validiert. Die endgültige Umfrage deckte verschiedene Aspekte ab, darunter diagnostische Abläufe, chirurgische Eingriffe, adjuvante Therapien und Nachsorgeprotokolle.
Es wurden 65 auf neuroendokrine Tumoren spezialisierte Zentren zur Teilnahme eingeladen, darunter ENETS- oder EURACAN-G6-Exzellenzzentren sowie Zentren mit ENETS-Beratungs- oder Vorstandsmitgliedern. Jede Institution wurde gebeten, eine einzige, möglichst vom multidisziplinären Tumorboard ausgefüllte Antwort abzugeben. Die Umfrage wurde von März bis August 2022 durchgeführt, alle Antworten wurden in diesem Zeitraum gesammelt.
Die Daten wurden sorgfältig aufbereitet und analysiert. Die Forscher führten eine deskriptive Analyse der qualitativen Daten durch und präsentierten die Ergebnisse als absolute Zahlen und Prozentsätze. Eine Übereinstimmung wurde bei mindestens 75 % der Antworten als Konsens gewertet. Antworten mit „Ich weiß nicht“ wurden einbezogen, um ein vollständiges Bild der klinischen Unsicherheiten zu erhalten.
Detaillierte Umfrageergebnisse: Aktuelle Praxis
Vierunddreißig Experten aus 20 spezialisierten Zentren für neuroendokrine Lungentumoren beantworteten die Umfrage. Die Mehrheit der Befragten waren medizinische Onkologen (29,4 %), gefolgt von Gastroenterologen und Endokrinologen (je 20,5 %). Die Hälfte der Zentren gab an, mehr als 25 Lungen-NET-Fälle pro Jahr zu behandeln, was auf beträchtliche Erfahrung mit diesen seltenen Tumoren hindeutet.
Diagnostische Ansätze: Für einen zufällig im CT entdeckten peripheren Lungen-NET nannten fast alle Befragten (94 %) die Somatostatinrezeptor-PET/CT als Methode der Wahl, gefolgt von abdominalem CT (71 %) und [18F]FDG-PET/CT (29 %). Bei symptomatischen, zentral gelegenen Lungen-NETs empfahl die Mehrheit (88 %) ebenfalls die Somatostatinrezeptor-PET/CT, danach thorakales und oberes abdominales CT mit Kontrastmittel (77 %) und [18F]FDG-PET/CT (50 %).
Chirurgische Entscheidungen: Die Umfrage zeigte erhebliche Unterschiede in den chirurgischen Ansätzen. Bei einem bestätigten Karzinoidtumor waren die Antworten: „weiß nicht“ (35 %), Segmentresektion mit Lymphadenektomie (32 %) und weite Keilresektion (15 %). In komplexen Fällen gaben die meisten Spezialisten (67 %) an, eine Pneumonektomie zu vermeiden und stattdessen parenchymsparende Verfahren wie Manschettenresektionen mit Lymphadenektomie zu bevorzugen.
Lücken in der multidisziplinären Versorgung: Besorgniserregend war, dass 70,6 % der Zentren keine speziellen Tumorboards für neuroendokrine Lungentumoren anbieten. In 65 % der Fälle war die Chirurgie die erste Anlaufstelle, gefolgt von der Pneumologie (53 %).
Adjuvante Therapiepräferenzen: Die Mehrheit der Zentren (69 %) würde nach vollständiger Entfernung eines primären Lungenkarzinoids mit negativen Scans keine adjuvante Therapie empfehlen. Falls doch, variierten die Empfehlungen je nach Tumoreigenschaften:
- Bei knotenpositiven typischen Karzinoiden: 14 Zentren nie, 2 manchmal, 1 oft
- Bei knotennegativen atypischen Karzinoiden: 14 Zentren nie, 2 manchmal, 1 oft
- Bei knotenpositiven atypischen Karzinoiden: 9 nie, 9 manchmal, 1 oft, 1 immer
Falls eine adjuvante Therapie empfohlen wurde, bevorzugte fast die Hälfte der Spezialisten systemische Behandlungen ohne Strahlentherapie. Somatostatinanaloga (42 %) und Temozolomid-basierte Chemotherapie (29 %) waren die häufigsten Empfehlungen. Kein Spezialist sprach sich für eine adjuvante Platin-Etoposid-Chemotherapie aus.
Unterstützung für klinische Studien: Eine überwältigende Mehrheit der Experten (91 %) hielt prospektive randomisierte Studien zur adjuvanten Therapie für machbar. Die meisten schlugen vor, Patienten mit knotenpositiven atypischen Karzinoiden nach vollständiger oder mikroskopisch befallener Resektion einzubeziehen, mit dem krankheitsfreien Überleben nach 3–5 Jahren als primärem Endpunkt. 85 % der Experten gaben an, pro Jahr bis zu 10 Patienten für eine solche Studie rekrutieren zu können.
Nachsorgeprotokolle: Die Umfrage untersuchte auch die Nachsorge nach chirurgischer Resektion. Bei einem 75-jährigen Patienten mit typischem Karzinoid (Ki67 <1 %, 0 Mitosen, negative Scans) bevorzugten die meisten Spezialisten (85 %) radiologische/klinische Nachsorge statt zusätzlicher Behandlung.
Bedeutung für Patienten
Die Umfrage zeigt mehrere wichtige Implikationen für Patienten mit Lungenkarzinoidtumoren. Die erhebliche Variabilität der Behandlungsansätze zwischen den Zentren bedeutet, dass der Behandlungsort einen großen Einfluss auf den Therapieplan haben kann. Dies unterstreicht die Bedeutung einer Behandlung in Zentren mit spezifischer Expertise für neuroendokrine Tumoren und multidisziplinären Tumorboards.
Patienten sollten wissen, dass bei typischen Karzinoiden ohne Lymphknotenbefall die meisten Experten nach vollständiger chirurgischer Entfernung keine zusätzliche Therapie empfehlen. Bei höherriskanten Situationen wie atypischen Karzinoiden oder Lymphknotenbefall herrscht jedoch Uneinigkeit über den Nutzen zusätzlicher Behandlungen. Diese Unsicherheit betont den Bedarf an weiterer Forschung und die Notwendigkeit, alle Optionen ausführlich mit dem Behandlungsteam zu besprechen.
Der starke Konsens (91 %) unter Experten, dass klinische Studien machbar und notwendig sind, zeigt, dass die Fachgemeinschaft diese Wissenslücken erkennt und motiviert ist, sie zu schließen. Patienten sollten nach Möglichkeiten für klinische Studien fragen, insbesondere bei höherriskanten Krankheitsmerkmalen.
Der Befund, dass 70,6 % der Zentren keine speziellen Tumorboards für neuroendokrine Lungentumoren haben, legt nahe, dass Patienten aktiv nach Zentren mit diesem umfassenden Ansatz suchen sollten. Multidisziplinäre Versorgung verbessert nachweislich die Ergebnisse bei komplexen Krebserkrankungen, indem sie alle Behandlungsperspektiven berücksichtigt.
Studieneinschränkungen
Obwohl die Umfrage wertvolle Einblicke in die aktuelle Praxis bietet, sind mehrere Einschränkungen zu beachten. Die Antwortrate von nur 20 der 65 eingeladenen Zentren (34 Experten) war relativ niedrig und könnte einen Selektionsbias引入, da antwortende Zentren möglicherweise andere Praktiken haben als nicht antwortende.
Das Umfragedesign erfasste Expertenmeinungen statt objektiver Ergebnisdaten. Obwohl Fachmeinungen wertvoll sind, müssen sie nicht immer mit der Evidenz übereinstimmen. Die präsentierten Szenarien waren hypothetisch, und die reale Entscheidungsfindung kann bei individuellen Patienten abweichen.
Die Umfrage konzentrierte sich primär auf europäische Exzellenzzentren, was die Übertragbarkeit auf andere Gesundheitssysteme mit unterschiedlichen Ressourcen und Praxen einschränken könnte. Zudem waren einige Fachgruppen unterrepräsentiert, z. B. Thoraxchirurgen (nur einer antwortete).
Schließlich bietet die Umfrage nur eine Momentaufnahme der klinischen Praxis von 2022. Behandlungsansätze entwickeln sich weiter, sobald neue Evidenz verfügbar wird. Die Ergebnisse repräsentieren Expertenmeinungen, nicht etablierte evidenzbasierte Leitlinien.
Empfehlungen für Patienten
Basierend auf den Umfrageergebnissen sollten Patienten mit Lungenkarzinoidtumoren folgende Empfehlungen beachten:
- Spezialisierte Versorgung aufsuchen: Aufgrund der variablen Behandlungsansätze sollten Sie sich in Zentren mit Expertise für neuroendokrine Tumoren vorstellen. Diese verfügen mit größerer Wahrscheinlichkeit über Erfahrung mit Ihrem spezifischen KrebsTyp.
- Multidisziplinäre Fallbesprechung sicherstellen: Bitten Sie darum, dass Ihr Fall von einem Team aus medizinischen Onkologen, Chirurgen, Endokrinologen, Radiologen und Pathologen mit Erfahrung bei neuroendokrinen Tumoren begutachtet wird.
- Alle Optionen ausführlich besprechen: Bei höherriskanten Situationen (atypische Histologie, Lymphknotenbefall) führen Sie detaillierte Gespräche über Nutzen und Grenzen adjuvanter Therapien, da die Expertenmeinungen hier stark variieren.
- Nach klinischen Studien fragen: Erkundigen Sie sich bei Ihrem Behandlungsteam nach laufenden Studien, insbesondere bei höherriskanten Merkmalen. Viele Experten halten Studien für machbar und notwendig.
- Nachsorgepläne verstehen: Besprechen Sie einen klaren, personalisierten Nachsorgeplan, einschließlich Art und Häufigkeit der Bildgebung.
- Zweitmeinungen einholen: Angesichts des fehlenden Konsenses sollten Sie bei komplexen Entscheidungen über adjuvante Therapie oder Chirurgie eine Zweitmeinung in Betracht ziehen.
Bedenken Sie, dass Lungenkarzinoide im Allgemeinen langsamer wachsen als andere Lungenkrebsarten, was Zeit für eine gründliche Abwägung der Optionen lässt. Zögern Sie nicht, Fragen zu stellen, und vergewissern Sie sich, dass Sie die Begründung für Ihren Therapieplan vollständig verstehen.
Quellenangaben
Originaltitel: Clinical management of typical and atypical carcinoids/neuroendocrine tumors in ENETS centres of excellence (CoE): Survey from the ENETS lung NET task force
Autoren: Anna Koumarianou, Pier Luigi Filosso, Lisa Bodei, Justo P. Castano, Lynnette Fernandez-Cuesta, Christophe M. Deroose, Matthieu Foll, Clarisse Dromain, Nicholas Simon Reed, Martyn Caplin, Jaume Capdevila, Jenny Falkerby, Antongiulio Faggiano, Andrea Frilling, Enrique Grande, Rodney J. Hicks, Atsuko Kasajima, Beata Kos-Kudla, B. A. Krishna, Eric Lim, Anja Rinke, Simron Singh, Chrissie Thirlwell, Marco Volante, Thomas Walter
Veröffentlichung: Journal of Neuroendocrinology, 2024;36:e13412
Hinweis: Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung führender Experten für neuroendokrine Tumoren und stellt die erste umfassende Untersuchung der Behandlungsmuster für Lungenkarzinoide in internationalen Fachzentren dar.