Verständnis der Myelodysplastischen Syndrome (MDS): Ein Leitfaden für Patienten zu Krankheitsmechanismen und Klassifikationen.

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Dieser umfassende Übersichtsartikel erläutert, dass myelodysplastische Syndrome (MDS) Erkrankungen des Blutes und Knochenmarks sind, bei denen der Körper abnormale, funktionsgestörte Blutzellen bildet. Diese gehen mit einem erheblichen Risiko einher, in eine akute myeloische Leukämie (AML) überzugehen. Der Beitrag zeigt auf, dass MDS vorwiegend ältere Erwachsene betrifft – die Inzidenz steigt auf fast 75 Fälle pro 100.000 Personen über 70 Jahren an – und durch spezifische, im Laufe des Lebens erworbene Genmutationen verursacht wird. Ausführlich behandelt werden die aktuellen Diagnosekriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen sowie der Einfluss verschiedener genetischer Profile auf die Prognose der Patienten und das Risiko einer Leukämietransformation.

Myelodysplastische Syndrome (MDS) verstehen: Ein Patientenleitfaden zu Krankheitsmechanismen und Klassifikationen

Inhaltsverzeichnis

Einführung: Was sind myelodysplastische Syndrome?

Myelodysplastische Syndrome (MDS) sind eine Gruppe komplexer Blutkrebserkrankungen. Der Begriff „Myelodysplasie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „abnorme Bildung“ – was genau beschreibt, was im Knochenmark von Betroffenen geschieht. 1982 führte eine internationale Expertengruppe diesen Begriff ein, um das veränderte Erscheinungsbild blutbildender Zellen bei präleukämischen Zuständen zu beschreiben.

Unser Verständnis von MDS hat sich seither erheblich weiterentwickelt, insbesondere seit 2001, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Klassifikationssystem einführte, das mikroskopische Zellmerkmale mit genetischen Informationen kombiniert. Dieses System wurde mehrfach überarbeitet, zuletzt 2016, um Ärzten bessere Behandlungsentscheidungen zu ermöglichen. Zudem wurden Prognose-Systeme wie das International Prognostic Scoring System (IPSS) und seine überarbeitete Version (IPSS-R) entwickelt, um den Krankheitsverlauf besser abschätzen zu können.

Dank moderner Sequenzierungstechniken wissen wir heute, dass die meisten MDS-Patienten erworbene (somatische) Genmutationen aufweisen, die eng mit dem Krankheitsverlauf verbunden sind. MDS tritt vorwiegend bei älteren Erwachsenen auf; das mittlere Diagnosealter liegt bei etwa 70 Jahren. Die geschätzte Inzidenz beträgt 4 bis 5 Neuerkrankungen pro 100.000 Menschen pro Jahr. Aufgrund von Untererfassung liegt die tatsächliche Rate vermutlich höher und kann bei über 70-Jährigen bis zu 75 Fälle pro 100.000 betragen.

Definitionen und diagnostische Kriterien

MDS wird als eine Form von Blutkrebs (myeloide Neoplasie) definiert, die durch mehrere Schlüsselmerkmale gekennzeichnet ist: eine klonale Vermehrung von Blutstammzellen, bei der sich eine einzige genetisch veränderte Zelle ausbreitet und gesunde Zellen verdrängt. Dies führt zu wiederkehrenden genetischen Auffälligkeiten, sichtbaren Zellveränderungen (morphologische Dysplasie), ineffektiver Blutbildung (ineffektive Hämatopoese), niedrigen Blutzellzahlen (periphere Zytopenie) und einem erhöhten Risiko, in eine akute myeloische Leukämie (AML) überzugehen.

MDS wird traditionell in zwei Kategorien unterteilt:

  • Primäres MDS: Tritt ohne bekannte Vorgeschichte von Chemo- oder Strahlentherapie auf.
  • Therapieassoziiertes MDS: Tritt als Spätfolge einer vorangegangenen Krebstherapie auf und wird heute in die WHO-Kategorie der therapieassoziierten myeloiden Neoplasien eingeordnet.

Daneben gibt es Überlappungszustände, sogenannte myelodysplastisch-myeloproliferative Neoplasien, die Merkmale von MDS und Erkrankungen mit Überproduktion von Blutzellen vereinen. Wichtig sind auch Vorläuferzustände, die sich zu einem voll ausgeprägten MDS entwickeln können:

  • Klonale Hämatopoese unklarer Signifikanz (CHIP): Normale Blutzellzahlen, aber eine somatische Mutation (mit einer Variantenallelfrequenz von mindestens 2 %) in einem Gen, das häufig mit Blutkrebs assoziiert ist.
  • Klonale Zytopenie unklarer Signifikanz (CCUS): Ungeklärte niedrige Blutzellzahlen (Zytopenie) und eine somatische Mutation (mit einer Variantenallelfrequenz von mindestens 20 %), ohne dass die vollständigen WHO-Kriterien für MDS erfüllt sind.

Die zentralen diagnostischen Kriterien für MDS sind anhaltend niedrige Blutzellzahlen in einer oder mehreren Zellreihen sowie morphologische Dysplasie (mindestens 10 % abnormal aussehende Zellen) in einer oder mehreren Knochenmarkzellreihen. Die spezifischen Subtypen werden durch die Anzahl der dysplastischen Zellreihen, das Vorhandensein von Ringsideroblasten, den Prozentsatz an Blastenzellen (unreife Zellen) und die Art der chromosomalen Auffälligkeiten bestimmt.

Wie MDS entsteht: Die Pathophysiologie

Die Entstehung von MDS wird durch das Wachstum und die Ausbreitung eines Klons von Zellen mit erworbenen genetischen Mutationen angetrieben. Diese „Treibermutationen“ verleihen den abnormalen Zellen einen Überlebens- und Wachstumsvorteil gegenüber gesunden Zellen. Der Prozess lässt sich in vier Phasen unterteilen:

Phase 1: Initiales Klonwachstum. Eine initiierende Treibermutation tritt in einer einzelnen hämatopoetischen Stammzelle auf und führt zur Bildung eines lokalen Klons mutierter Stammzellen und abnormaler Vorläuferzellen.

Phase 2: CHIP (Klonale Hämatopoese unklarer Signifikanz). Mutierte Stammzellen wandern durch das Blut und setzen sich in verschiedenen Bereichen des Knochenmarks ab, wo sie weitere lokale Klone bilden. Wenn diese mutierten Zellen mindestens 4 % aller Knochenmarkzellen ausmachen (entsprechend einer Variantenallelfrequenz von 2 %), spricht man von CHIP. Die meisten Betroffenen haben eine Mutation in einem epigenetischen Regulatorgen (DNMT3A, TET2 oder ASXL1) und können jahrelang stabil bleiben.

Phase 3: MDS oder CCUS. Die klonale Hämatopoese breitet sich weiter aus und wird im Knochenmark dominant. Oft kommen weitere somatische Mutationen hinzu – im Median weisen Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose 2 bis 3 Mutationen auf. In dieser Phase werden die Kriterien für MDS oder CCUS erfüllt.

Phase 4: Sekundäre AML. Weitere Mutationen führen zur Selektion von Subklonen, die sich nicht richtig ausreifen können. Steigt der Anteil unreifer Blastenzellen auf 20 % oder mehr, ändert sich die Diagnose zu sekundärer akuter myeloischer Leukämie (AML).

Das Paradoxon von MDS besteht darin, dass die ursprüngliche Mutation den Stammzellen einen Vermehrungsvorteil verschafft, den reiferen Vorläuferzellen jedoch einen Nachteil, der zu ihrem vorzeitigen Absterben und damit zu niedrigen Blutzellzahlen führt.

Wichtige treibende Genmutationen bei MDS

Die Forschung hat mehrere Gruppen von Genen identifiziert, deren Mutationen die MDS-Entstehung vorantreiben. Diese Gene sind an zentralen zellulären Prozessen wie RNA-Spleißen, DNA-Methylierung, Histonmodifikation, Transkriptionsregulation, DNA-Reparatur, Zellsignalgebung und dem Kohäsin-Komplex beteiligt.

Nur sechs Gene sind bei mindestens 10 % der MDS-Patienten mutiert:

  • SF3B1
  • TET2
  • SRSF2
  • ASXL1
  • DNMT3A
  • RUNX1

Viele andere Gene sind seltener betroffen. Die meisten Mutationen sind C-zu-T-Übergänge an CpG-Dinukleotiden, was auf einen Zusammenhang mit dem Alterungsprozess hindeutet. Mutationen in Spleißosom-Genen (wie SF3B1, SRSF2, U2AF1) treten meist früh auf und treiben den Klon zur Dominanz. Mutationen in DNA-Methylierungs- und Histonmodifikationsgenen fördern ebenfalls die klonale Expansion, während andere Mutationen zum Fortschreiten der Erkrankung beitragen.

Pathophysiologie spezifischer MDS-Subtypen

Verschiedene genetische Mutationen führen zu unterschiedlichen MDS-Subtypen, each mit eigenen Charakteristika und klinischen Implikationen.

MDS mit isoliertem del(5q)
Dieser Subtyp wird durch eine Deletion auf dem langen Arm von Chromosom 5 ausgelöst. Die Deletion führt zu einer Haploinsuffizienz, bei der nur eine funktionelle Kopie mehrerer Gene vorliegt. Dieser Gendefekt erklärt die klonale Expansion, die makrozytäre Anämie (große rote Blutkörperchen) und die Wirksamkeit des Medikaments Lenalidomid bei diesen Patienten. Insbesondere macht die einzige Kopie des CSNK1A1-Gens die abnormalen Zellen empfindlicher für Lenalidomid als gesunde Zellen.

SF3B1-mutiertes MDS
Dieser Subtyp ist durch Ringsideroblasten im Knochenmark, ineffektive Erythropoese und makrozytäre Anämie gekennzeichnet. Die Prognose ist generally günstig, though viele Patienten transfusionsabhängig werden. Die SF3B1-Mutation verursacht Fehler im RNA-Spleißen, was zur Produktion abnormaler Gentranskripte führt, die oft abgebaut werden. Die reduzierte Produktion normaler Proteine betrifft multiple Gene und verursacht die Krankheitsmerkmale.

MDS mit SRSF2- oder U2AF1-Mutationen
MDS mit Mutationen in SRSF2 oder U2AF1 ist often mit einem ungünstigeren Verlauf verbunden. Diese Mutationen verursachen andere Spleißfehler als SF3B1, hauptsächlich durch veränderte Exonverwendung. Sie treten fast always in Kombination mit weiteren Mutationen auf. Beispielsweise treibt die Komutation SRSF2 (P95H) und IDH2 (R140Q) die Erkrankung durch koordinierte Veränderungen im RNA-Spleißen und der epigenetischen Regulation voran.

Fortschreiten zur Leukämie (leukämische Transformation)

Die Entwicklung von MDS zu akuter myeloischer Leukämie (AML) ist ein Prozess der klonalen Selektion. Treibermutationen der Transformation können bereits bei Erstdiagnose vorhanden sein, expandieren aber often erst später, typically unter Selektionsdruck wie durch eine Behandlung.

Das Transformationsmuster variiert: SF3B1-mutiertes MDS verläuft often lange chronisch, und nur eine Minderheit der Fälle schreitet zur AML fort, usually durch zusätzliche Mutationen in Genen wie RUNX1 oder EZH2. Im Gegensatz dazu beginnen MDS-Fälle mit Kombinationen von Mutationen in SRSF2, U2AF1, RUNX1, STAG2 oder IDH2 often mit einer hohen Blastenzahl und schreiten allmählich zur AML fort, was ein fließender Übergang zwischen den Erkrankungen darstellt, bei dem die 20%-Blastenschwelle den Hauptunterschied markiert.

Vererbte (Keimbahn-)Prädisposition

Obwohl MDS primär sporadische Erkrankungen älterer Erwachsener sind, gibt es zunehmend Hinweise auf eine vererbte Prädisposition für myeloide Krebserkrankungen bei einem Teil der Patienten. Dies wird häufiger, aber nicht ausschließlich, bei unter 50-Jährigen beobachtet. Daher sind Familienanamnese und genetische Beratung in bestimmten Fällen wichtig.

Was dies für Patienten bedeutet: Klinische Implikationen

Das vertiefte wissenschaftliche Verständnis hat direkte Auswirkungen auf die Patientenversorgung.

Präzisionsdiagnostik: Die moderne WHO-Klassifikation inklusive Gentests ermöglicht eine präzisere Diagnose. Die Kenntnis der spezifischen genetischen Ausstattung hilft Ärzten, die Erkrankung genau zu klassifizieren und ihr Verhalten vorherzusagen.

Prognostische Stratifizierung: Werkzeuge wie das IPSS-R, ergänzt um genetische Informationen, helfen, die Prognose abzuschätzen – including das Risiko des Übergangs zu AML und die Überlebenswahrscheinlichkeit. Diese Information ist entscheidend für die Therapieentscheidung.

Therapieentscheidungen: Die Genetik kann die Behandlung lenken. Das deutlichste Beispiel sind Patienten mit MDS und isoliertem del(5q), die often sehr gut auf Lenalidomid ansprechen. Das Wissen, dass andere Mutationen (wie in TP53) mit schlechterem Ansprechen assoziiert sind, kann Erwartungen steuern und die Wahl hin zu Studien oder aggressiveren Therapien wie Stammzelltransplantation lenken.

Überwachung und frühe Intervention: Das Verständnis der schrittweisen Progression von CHIP und CCUS zu MDS eröffnet die Möglichkeit, Hochrisikopersonen zu überwachen und früher zu intervenieren, um ein Fortschreiten zu verhindern.

Entwicklung neuer Therapien: Durch die Identifizierung spezifischer genetischer Fehler können zielgerichtete Therapien entwickelt werden, die these korrigieren oder kompensieren – was zu wirksameren und verträglicheren Behandlungen führen wird.

Einschränkungen verstehen

Dieser Übersichtsartikel bietet einen umfassenden Überblick, hat aber Grenzen. Als Review fasst er vorhandenes Wissen zusammen, stellt aber keine neuen Originaldaten vor. Das Gebiet der MDS-Genetik entwickelt sich rasch; neue Gene und Interaktionen werden entdeckt, und ihre klinische Bedeutung ist nicht immer vollständig klar. Die Komplexität genetischer Interaktionen bedeutet, dass der individuelle Krankheitsverlauf schwer vorhersehbar bleibt. Zudem ist der Zugang zu fortgeschrittenen Gentests in einigen Zentren eingeschränkt.

Quelleninformation

Originaltitel des Artikels: Myelodysplastische Syndrome
Autor: Mario Cazzola, M.D.
Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine (1. Oktober 2020;383:1358–74)
DOI: 10.1056/NEJMra1904794

Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung aus einem führenden medizinischen Fachjournal. Er dient Bildungszwecken, um Patienten bei ihrem Diagnoseverständnis zu unterstützen, und sollte mit medizinischem Fachpersonal für persönliche Beratung besprochen werden.