Ein 21-jähriger Mann mit Sichelzellanämie erlitt einen Bewusstseinsverlust mit Sturz, gefolgt von einem epileptischen Anfall während seines Krankenhausaufenthaltes. Erweiterte Bildgebung des Gehirns zeigte Befunde, die mit einem posterior reversiblen Enzephalopathiesyndrom (PRES) vereinbar sind – einer Erkrankung, bei der es infolge von Gefäßveränderungen zu einer Hirnschwellung kommt. Dieser Fall veranschaulicht, wie die Sichelzellanämie zu schwerwiegenden neurologischen Komplikationen führen kann, die Schlaganfälle nachahmen, jedoch abweichende Behandlungsstrategien erfordern.
Neurologische Komplikationen bei Sichelzellkrankheit: Eine Fallstudie
Inhaltsverzeichnis
- Fallvorstellung
- Krankengeschichte und Hintergrund
- Erste Untersuchungsbefunde
- Diagnostische Ergebnisse
- Bildgebende Befunde
- Differenzialdiagnose
- Klinische Einschätzung
- Bedeutung für Patienten
- Quellen
Fallvorstellung
Ein 21-jähriger Mann mit bekannter Sichelzellkrankheit wurde nach einem Bewusstseinsverlust mit Sturz in der Notaufnahme vorgestellt. In der Woche zuvor hatte er vermehrt typische Schmerzkrisen in Brust, Rücken, Armen und Beinen, die ambulant mit Hydromorphon-Infusionen behandelt wurden.
Am Tag des Vorfalls nahm er bei Brustschmerzen orales Oxycodon und Sauerstoff. Seine Familie fand ihn bewusstlos auf dem Schlafzimmerboden, nachdem sie ein lautes Geräusch gehört hatte. Der Patient wachte zwar auf Ansprache wieder auf, zeigte jedoch für etwa eine Minute Verwirrtheit, bevor sich sein Zustand normalisierte. Er gab an, sich nach einem Nickerchen schwindlig gefühlt und versucht zu haben, durch sein Zimmer zu gehen, kurz bevor er stürzte.
Der Rettungsdienst dokumentierte einen normalen Blutzucker und einen Glasgow-Coma-Scale-Wert (GCS) von 15 (Vollbewusstsein). Vorsorglich wurde eine Halskrause angelegt und der Patient zur weiteren Abklärung ins Krankenhaus gebracht.
Krankengeschichte und Hintergrund
Der Patient litt an homozygoter Sichelzellkrankheit mit mehreren Folgekomplikationen:
- Wiederkehrende vaso-okklusive Krisen (Schmerzkrisen durch Gefäßverschlüsse)
- Lungenembolie und Thrombose der Vena cava inferior
- Verschluss der Netzhautarterie, der regelmäßige Transfusionen zur Schlaganfallprophylaxe erforderte
- Sichelzellnephropathie (Nierenbeteiligung)
- Avaskuläre Hüftkopfnekrose (durch Mangeldurchblutung)
- Gallensteine, Eisenüberladung und Milzsequestration mit Zustand nach Splenektomie
Medikation: Apixaban (Antikoagulans), Deferasirox (Eisenchelator), Amoxicillin, Gabapentin, Cetirizin, Montelukast, Famotidin, Oxycodon bei Bedarf, sowie mehrere Inhalatoren. Zusätzlich Sauerstoff bei Bedarf und regelmäßige Bluttransfusionen.
Familienanamnese: Mutter mit Multipler Sklerose und Absencen in der Kindheit; mehrere Familienmitglieder mit Hypertonie; Großvater väterlicherseits mit Schlaganfall.
Erste Untersuchungsbefunde
Befunde bei Aufnahme:
- Herzfrequenz: 123/min (Tachykardie)
- Blutdruck: 149/95 mmHg (leicht erhöht)
- Sauerstoffsättigung: 97% an Raumluft (normal)
- Abschürfung rechts stirnseitig und Schwellung der rechten Wange (sturzassoziiert)
- Leichter Ikterus der Skleren
- Tachykarder Herzschlag mit midsystolischem Geräusch
- Chronische Schwäche des rechten Arms
- Sonst unauffälliger neurologischer Status
Diagnostische Ergebnisse
Laborchemisch zeigte sich eine mäßige Anämie mit Hämoglobin 9,8 g/dl (Norm: 13,5–17,5), die am Folgetag auf 8,2 g/dl abfiel. Die Leukozyten waren mit 20.860/μl (Norm: 4.500–11.000) erhöht und stiegen auf 22.380/μl, was auf eine Infektion oder Entzündung hindeutete.
Der Blutausstrich wies Sichelzellen, Targetzellen, Burr-Zellen und Howell-Jolly-Körperchen auf – alles typisch für eine Sichelzellkrankheit nach Splenektomie. Die Retikulozytenzahl war mit 14,2% (Norm: 0,5–2,5%) stark erhöht, was auf eine gesteigerte Erythropoese hinweist.
Zusätzliche Werte nach dem Krampfereignis:
- Kreatinkinase: 4.431 U/l (Norm: 60–400) – Hinweis auf Muskelschädigung
- Laktat: 12,7 mmol/l (Norm: 0,5–2,0) – deutlich erhöht, passend zu Krampfaktivität
- D-Dimer: >10.000 ng/ml (Norm: <500) – stark erhöht, Hinweis auf Gerinnungsaktivierung
Urintoxikologie negativ bis auf Oxycodon (ordnungsgemäße Einnahme).
Bildgebende Befunde
Ca. 7 Stunden nach dem Krampfereignis wurde eine MRT des Schädels durchgeführt. Wichtige Befunde:
T2-FLAIR-Sequenzen zeigten signalreiche Areale in den posterioren Anteilen beider Hemisphären, einschließlich frontaler, parietaler, okzipitaler und temporaler Regionen. Auffälligkeiten auch im linken Lentiformkern und der rechten Kleinhirnhemisphäre. Diese Befunde deuteten auf ein vasogenes Ödem mit leichtem Masseneffekt hin.
Diffusionsgewichtete Sequenzen ohne Einschränkung – damit Ausschluss eines akuten Ischämies. Kontrastmittelverstärkte T1-Sequenzen zeigten eine unregelmäßige Anreicherung in einigen Arealen, was auf eine Störung der Blut-Hirn-Schranke hindeutet. Suszeptibilitätsgewichtete Aufnahmen wiesen multiple Mikroblutungen im gesamten Hirngewebe auf.
MR-Angiographie unauffällig ohne Gefäßstenosen oder -verschlüsse. Das Gesamtbild war am ehesten mit einem posteriores reversiblen Enzephalopathiesyndrom (PRES) vereinbar.
Differenzialdiagnose
Mögliche Ursachen wurden diskutiert:
Synkope vs. Krampfanfall: Das initiale Ereignis konnte sowohl eine Synkope als auch ein epileptischer Anfall sein. Die kurze Verwirrtheit danach ist bei beiden möglich. Fehlender Zungenbiss oder Inkontinenz schließen einen Anfall nicht aus.
Traumatische Blutung: Der Sturz unter Antikoagulation hätte eine intrakranielle Blutung verursachen können.
Fettemboliesyndrom: Seltene Komplikation bei Sichelzellkrankheit, jedoch typischerweise mit respiratorischer Symptomatik, die hier fehlte.
PRES: Die symmetrische Schwellung in der MRT und die klinische Präsentation machten diese Diagnose am wahrscheinlichsten.
Weitere Differenzialdiagnosen wie Sinusvenenthrombose, Vasokonstriktionssyndrom, Enzephalitis oder Infektionen wurden erwogen, aber ausgeschlossen.
Klinische Einschätzung
Die wahrscheinlichste Diagnose war ein PRES im Rahmen der Sichelzellkrankheit. Mehrere Faktoren unterstützten dies:
Patienten mit Sichelzellkrankheit haben ein hohes Schlaganfallrisiko (24% bis zum 40. Lebensjahr). PRES kann schlaganfallähnlich imponieren und muss differenzialdiagnostisch bedacht werden. Die Grunderkrankung und Nierenbeteiligung sind bekannte Risikofaktoren für PRES.
Die MRT mit symmetrischem Ödem in posterioren Regionen, zusammen mit Krampfgeschehen und Bewusstseinsstörung, sprach für PRES. Das stark erhöhte D-Dimer wies auf Gefäßaktivierung und endotheliale Dysfunktion hin, die bei Sichelzellkrisen und PRES pathophysiologisch relevant sind.
Obwohl Epilepsie bei Sichelzellpatienten häufiger vorkommt und eine positive Familienanamnese bestand, passte die Gesamtpräsentation besser zu einem PRES als zu einer neu aufgetretenen Epilepsie.
Bedeutung für Patienten
Dieser Fall zeigt wichtige Aspekte für Patienten mit Sichelzellkrankheit:
Neurologische Symptome ernst nehmen: Bewusstseinsverlust, Krampfanfälle oder neurologische Ausfälle erfordern sofortige Abklärung – möglicher Hinweis auf Schlaganfall, PRES oder andere Komplikationen.
PRES als mögliche Komplikation kennen: Kopfschmerzen, Sehstörungen, Krampfanfälle oder Verwirrtheit können auf ein PRES hinweisen. Früherkennung ist entscheidend.
Regelmäßige Kontrollen und Prävention: Hämatologische und nephrologische Nachsorge, Blutdruckkontrolle, Hydratation und Vermeidung von Krisenauslösern können neurologische Komplikationen reduzieren.
Notfallplan erstellen: Patienten sollten ihre Diagnose, Medikation und mögliche Komplikationen dokumentieren, um im Notfall schnelle Hilfe zu ermöglichen.
Dieser Fall unterstreicht die Bedeutung einer umfassenden Betreuung bei Sichelzellkrankheit und die Ernsthaftigkeit neurologischer Komplikationen.
Quellen
Originalartikel: "Fall 2-2025: Ein 21-jähriger Mann mit Bewusstseinsverlust und Sturz"
Autoren: Eric F. Shappell, M.D., Brooks P. Applewhite, M.D., Sharl S. Azar, M.D., und David J. Lin, M.D.
Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 16. Januar 2025, Volume 392, Ausgabe 3, Seiten 268–276
DOI: 10.1056/NEJMcpc2412511
Dieser patientenorientierte Artikel basiert auf einer begutachteten Fallstudie aus dem NEJM. Er enthält alle relevanten medizinischen Befunde und Interpretationen des Originalfalls, ist aber für Patienten und Angehörige verständlich aufbereitet.