In dieser umfassenden Studie wurden 120 Multiple-Sklerose-Patienten untersucht, die sich unter realen klinischen Bedingungen einer autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation (AHSCT) unterzogen. Die Ergebnisse zeigten, dass 93 % der Patienten nach zwei Jahren und 87 % nach vier Jahren rezidivfrei blieben. Zudem wiesen 90 % nach zwei Jahren keine neuen MRT-Läsionen auf. Das Verfahren führte zu einer deutlichen Verringerung der Krankheitsaktivität, war jedoch mit einem behandlungsassoziierten Mortalitätsrisiko von 2,5 % verbunden, das hauptsächlich auf Komplikationen durch Volumenüberladung zurückzuführen war.
Autologe Stammzelltransplantation bei Multipler Sklerose: Real-World-Ergebnisse und Implikationen für Patienten
Inhaltsverzeichnis
- Einführung: Grundlagen der Stammzelltherapie bei MS
- Studiendesign und Patientenauswahl
- Patientencharakteristika vor der Behandlung
- Der AHSCT-Behandlungsprozess
- Hauptergebnisse: Wirksamkeitsendpunkte
- Sicherheitsprofil und unerwünschte Ereignisse
- Einflussfaktoren auf das Behandlungsergebnis
- Bedeutung für Patienten
- Studienlimitationen
- Empfehlungen für Patienten
- Quellenangaben
Einführung: Grundlagen der Stammzelltherapie bei MS
Die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation (AHSCT) gilt als vielversprechender Therapieansatz bei Multipler Sklerose. Sie zielt darauf ab, das Immunsystem neu zu starten und den entzündlichen Angriff auf das Nervensystem zu stoppen. Das Verfahren umfasst die Entnahme patienteneigener Stammzellen, die Unterdrückung des Immunsystems durch Chemotherapie und die anschließende Rückführung der Stammzellen, um ein neues, von Autoimmunaktivität befreites Immunsystem aufzubauen.
Die in Neurology veröffentlichte Studie untersucht, wie sich diese Behandlung unter Alltagsbedingungen bewährt – außerhalb streng kontrollierter Studien. Dieser Ansatz ist wichtig, da Real-World-Studien ein breiteres Patientenspektrum abdecken, das die allgemeine MS-Population besser widerspiegelt, und wertvolle Einblicke in die praktische Wirksamkeit der Behandlung liefern.
Studiendesign und Patientenauswahl
Diese retrospektive Studie analysierte 120 Multiple-Sklerose-Patienten, die zwischen 2012 und 2019 an zwei Londoner Zentren behandelt wurden: dem King's College Hospital und dem Hammersmith Hospital. Eingeschlossen wurden alle Patienten mit mindestens 6 Monaten Nachbeobachtungsdaten oder solche, die nach der Behandlung verstarben, um eine vollständige Erfassung der Behandlungsergebnisse zu gewährleisten.
Für die Auswahl geeigneter Kandidaten galten strenge Kriterien: eine gesicherte MS-Diagnose nach McDonald-Kriterien, ein Alter zwischen 18 und 65 Jahren, eine Erkrankungsdauer von maximal 15 Jahren seit der Diagnose und ein EDSS-Score zwischen 0 und 6,5. Entscheidend war der Nachweis einer „entzündlich aktiven MS“ durch MRT-Aktivität innerhalb der vorangegangenen 12 Monate.
Patienten mit schubförmig-remittierender MS (RRMS) mussten zudem mindestens eine hochwirksame krankheitsmodifizierende Therapie (DMT) wie Alemtuzumab, Mitoxantron, Natalizumab oder Ocrelizumab ohne ausreichenden Erfolg erhalten haben. Jeder Fall wurde multidisziplinär von Neurologen und Transplantationshämatologen begutachtet.
Patientencharakteristika vor der Behandlung
Die Studienpopulation war heterogen: 58 Patienten (48%) hatten eine schubförmig-remittierende MS, 40 (33%) eine sekundär-progrediente und 22 (18%) eine primär-progrediente MS. Die Geschlechterverteilung war nahezu ausgeglichen: 58 Frauen (48%) und 62 Männer (52%).
Das Durchschnittsalter lag bei 42,3 Jahren, die mittlere Erkrankungsdauer bei 8,9 Jahren. Der mediane EDSS-Score zu Studienbeginn betrug 6,0 – ein Hinweis auf mittlere bis deutliche Behinderung, bei der Patienten typischerweise Gehhilfen benötigen. Bemerkenswert: 90% der auswertbaren Patienten zeigten MRT-Aktivität in den 12 Monaten vor der Behandlung, was auf eine aktive Entzündung hindeutete.
Im Schnitt hatten die Patienten 1,7 krankheitsmodifizierende Therapien vor AHSCT versucht. RRMS-Patienten hatten mehr Therapien (durchschnittlich 2,3) ausprobiert als solche mit progredienten Verläufen. 70 Patienten (58%) hatten mindestens eine hochwirksame DMT erhalten, darunter 19 Alemtuzumab und 58 Natalizumab.
Der AHSCT-Behandlungsprozess
Der Behandlungsablauf folgte an beiden Zentren standardisierten Protokollen mit leichten Abweichungen. Zunächst wurden die Stammzellen mittels Cyclophosphamid-Chemotherapie mobilisiert und durch G-CSF stimuliert. Am King's College Hospital erhielten die meisten Patienten Cyclophosphamid 4g/m² über 2 Tage, am Hammersmith Hospital 2g/m² über 1 Tag.
Vor der Stammzellrückführung erfolgte eine Konditionierungschemotherapie mit Cyclophosphamid (50 mg/kg über 4 Tage) und rabbit anti-thymocyte globulin (rATG) zur Lymphodepletion. Die mediane CD34+-Stammzellosis betrug 7,17 × 10⁶/kg am King's College und 7,75 × 10⁶/kg am Hammersmith. Die Patienten blieben median 22 Tage stationär; das Neutrophilen-Engraftment erfolgte nach median 12 Tagen.
Zwischen den Zentren gab es Unterschiede: Das King's College Hospital verzeichnete längere stationäre Aufenthalte (median 26 vs. 20 Tage) und längere Engraftment-Zeiten (median 13 vs. 11 Tage), möglicherweise bedingt durch die höhere Cyclophosphamid-Dosis.
Hauptergebnisse: Wirksamkeitsendpunkte
Die Behandlung zeigte beeindruckende Wirksamkeit: Die annualisierte Schubrate sank von 0,46 ± 0,57 in den 2 Jahren vor der Transplantation auf 0,08 ± 0,38 in der Nachbeobachtungsphase (p < 0,001).
Die schubfreien Überlebensraten waren exzellent: 93% aller Patienten blieben 2 Jahre nach AHSCT schubfrei, 87% nach 4 Jahren. Alle Schübe nach der Behandlung traten nur bei RRMS-Patienten auf; in dieser Subgruppe betrug die schubfreie Überlebensrate 87% nach 2 und 77% nach 4 Jahren.
Auch die MRT-Ergebnisse waren bemerkenswert: 90% der Teilnehmer wiesen nach 2 Jahren keine neuen Läsionen auf, 85% nach 4 Jahren. Die Reduktion neuer T2-Läsionen war signifikant (p < 0,0001).
Die Behinderungsverläufe variierten zwischen den MS-Subtypen: Der durchschnittliche EDSS-Score stieg in den 12 Monaten vor der Behandlung um +0,25, danach nur noch um +0,02. RRMS-Patienten verbesserten sich im Schnitt um -0,17, progrediente MS-Patienten verschlechterten sich um +0,24.
Langfristig blieben 75% der Gesamtpopulation nach 2 Jahren frei von Behinderungsprogression, nach 4 Jahren waren es noch 65%. Zwischen RRMS- und progredienten MS-Subgruppen bestand kein signifikanter Unterschied.
Sicherheitsprofil und unerwünschte Ereignisse
Die Sicherheitsdaten zeigen erhebliche Risiken: Fast 90% der Patienten erlitten mindestens eine frühe Komplikation. Häufige unerwünschte Ereignisse waren Fieber, Infektionen, gastrointestinale Symptome und behandlungsbedingte Komplikationen.
Tragischerweise gab es 3 behandlungsbedingte Todesfälle innerhalb von 100 Tagen nach der Transplantation (Mortalitätsrate 2,5%). Alle drei traten nach Flüssigkeitsüberladung und kardialem oder respiratorischem Versagen auf. Betroffen waren zwei Patienten mit primär-progredienter MS (58 und 42 Jahre) und einer mit RRMS (51 Jahre), alle mit einem EDSS-Score von 6,5.
Flüssigkeitsüberladung (>5% Gewichtszunahme mit Ödemen, die Diuretika erforderten) trat bei 78 von 118 Patienten (66%) auf, typischerweise etwa 3 Tage nach der ersten Dosis Anti-Thymozyten-Globulin. Das King's College Hospital verzeichnete höhere Raten von Fieber, positiven Kulturen, Neutropenie und Wiederaufnahmen – möglicherweise aufgrund der höheren Cyclophosphamid-Dosis.
Einflussfaktoren auf das Behandlungsergebnis
Analysen identifizierten Epstein-Barr-Virus (EBV)-Reaktivierung und monoklonale Paraproteinämie als Faktoren für schlechtere Outcomes bezüglich Behinderungsprogression.
Hohe Paraproteinspiegel (>5 g/L) waren der einzige signifikante Prädiktor für EDSS-Progression über 4 Jahre (Odds Ratio 1,07; 95% KI 1,03–1,10; p < 0,001). Interessanterweise sagten Paraproteine keine Schübe oder neuen MRT-Läsionen voraus, was auf einen spezifischen Zusammenhang mit Behinderungsprogression hindeutet.
Virusreaktivierungen waren häufig: Zytomegalievirus bei 26 Fällen (präventive Behandlung erforderlich), EBV-Reaktivierung bei 63 Patienten (53%), typischerweise etwa 41 Tage nach Transplantation. Die meisten Fälle klangen spontan ab.
Bedeutung für Patienten
Diese Real-World-Studie liefert überzeugende Belege dafür, dass die autologe Stammzelltransplantation die MS-Aktivität langfristig wirksam unterdrücken kann. Die hohen Raten an Schubfreiheit (93% nach 2 Jahren) und MRT-Aktivitätsunterdrückung (90% nach 2 Jahren) zeigen, dass AHSCT den Krankheitsverlauf bei vielen Patienten signifikant verändern kann.
Die unterschiedlichen Outcomes zwischen MS-Subtypen haben wichtige Konsequenzen für Therapieentscheidungen: RRMS-Patienten verbesserten sich nach der Behandlung, progrediente Patienten verschlechterten sich weiter – wenn auch möglicherweise langsamer. Dies legt nahe, dass der Zeitpunkt der Intervention entscheidend ist: Besser während der entzündlichen Phase als nach fortgeschrittener Neurodegeneration.
Das erhebliche Risikoprofil – einschließlich einer Mortalitätsrate von 2,5% und häufiger schwerer Komplikationen – unterstreicht, dass AHSCT eine intensive Behandlung bleibt, die sorgfältige Patientenauswahl und erfahrene Zentren erfordert. Die hohe Rate an Flüssigkeitsüberladungen (66%) zeigt die Notwendigkeit wachsamer Überwachung.
Studienlimitationen
Die Studie weist mehrere Einschränkungen auf: Als retrospektive Analyse ohne Kontrollgruppe wird sie nach neurologischen Standards als Evidenzklasse IV eingestuft. Outcomes können nicht eindeutig der Behandlung statt natürlicher Krankheitsvariation zugeschrieben werden.
Die mediane Nachbeobachtungszeit von 21 Monaten (Range 6–85) limitiert das Verständnis langfristiger Ergebnisse über 4 Jahre hinaus. Das Fehlen einer Kontrollgruppe erschwert den Vergleich mit anderen Therapien oder unbehandelten Patienten.
Unterschiede zwischen den Zentren in Protokollen und Patientenbehandlung führten zu Variabilität. Die höhere Cyclophosphamid-Dosis in einem Zentrum schien mit längeren Aufenthalten und unterschiedlichen Komplikationsprofilen assoziiert – ein Hinweis, dass die Protokolloptimierung weiterhin im Fluss ist.
Patientenempfehlungen
Für Patienten, die eine autologe Stammzelltransplantation bei MS erwägen, gelten folgende Empfehlungen:
- Behandlung in erfahrenen Zentren suchen mit multidisziplinären Teams aus Neurologen und Transplantationshämatologen
- Den Zeitpunkt sorgfältig abwägen – frühere Intervention in der schubförmig-remittierenden Phase scheint mit besseren Ergebnissen verbunden
- Gründliche Voruntersuchung durchführen lassen inklusive Risikofaktoren wie Potenzial für Volumenüberladung
- Realistische Erwartungen haben – sowohl hinsichtlich der erheblichen Vorteile als auch der signifikanten Risiken, einschließlich der 2,5%igen Mortalitätsrate
- Langzeitnachsorge wahrnehmen um Langzeitergebnisse über 4–5 Jahre hinaus besser zu verstehen
Patienten sollten diese Ergebnisse mit ihren Ärzten besprechen, um zu klären, ob AHSCT angesichts ihrer Krankheitsmerkmale, Vorbehandlungen und Risikotoleranz eine geeignete Option ist.
Quelleninformation
Originalartikeltitel: Autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation bei aktiver Multipler Sklerose: Eine Fallserie aus der klinischen Praxis
Autoren: Richard S. Nicholas, PhD; Elijah E. Rhone, MD; Alice Mariottini, MD; Eli Silber, MD; Omar Malik, MD, PhD; Victoria Singh-Curry, MD; Ben Turner, MD; Antonio Scalfari, MD, PhD; Olga Ciccarelli, MD, PhD; Maria P. Sormani, PhD; Eduardo Olavarria, MD; Varun Mehra, MD, PhD; Ian Gabriel, MD; Majid A. Kazmi, MD; und Paolo Muraro, MD, PhD im Namen der London Group on Autologous Hematopoietic Stem Cell Transplantation for Multiple Sclerosis
Veröffentlichung: Neurology 2021;97:e890–e901. doi:10.1212/WNL.0000000000012449
Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung, die in Neurology, der medizinischen Fachzeitschrift der American Academy of Neurology, veröffentlicht wurde.