Dr. Marc Lippman, ein führender Experte für Brustkrebsbehandlung, erläutert die Auswahl neoadjuvanter und adjuvanter Chemotherapieprotokolle. Er geht detailliert auf die wesentlichen Vorteile einer systemischen Therapie vor der Operation ein. Dr. Lippman hebt hervor, wie die neoadjuvante Therapie Tumore verkleinern und nachfolgende Behandlungsentscheidungen beeinflussen kann. Er erörtert die entscheidende Bedeutung des pathologischen Komplettansprechens (pCR) als Prädiktor für das Überleben. Das Interview behandelt zudem das Potenzial der neoadjuvanten endokrinen Therapie, insbesondere für ältere oder geschwächte Patientinnen, und plädiert für einen stärker personalisierten Ansatz anstelle starrer Behandlungsschemata.
Neoadjuvante versus adjuvante Chemotherapie bei der Wahl der Brustkrebsbehandlung
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- Überlebensergebnisse bei neoadjuvanter und adjuvanter Therapie
- Vorteile der neoadjuvanten Chemotherapie
- Bedeutung des pathologischen Komplettansprechens (pCR)
- Potenzial der neoadjuvanten endokrinen Therapie
- Vermeidung von Übertherapie bei älteren Patientinnen
- Hin zu einem personalisierten Therapieansatz
- Vollständiges Transkript
Überlebensergebnisse bei neoadjuvanter und adjuvanter Therapie
Dr. Marc Lippman, MD, betont, dass randomisierte klinische Studien keinen signifikanten Überlebensunterschied zwischen neoadjuvanter und adjuvanter Chemotherapie bei Brustkrebs belegen. Die neoadjuvante Therapie erfolgt vor der Operation, die adjuvante danach. Laut Dr. Lippman beeinflusst die Wahl des Zeitpunkts die Gesamtüberlebensraten der Patientinnen nicht wesentlich. Diese grundsätzliche Gleichwertigkeit gibt Onkologen Spielraum bei der Therapieplanung. Die Entscheidung hängt oft von weiteren klinischen Faktoren ab, die über reine Überlebensstatistiken hinausgehen.
Vorteile der neoadjuvanten Chemotherapie
Dr. Marc Lippman, MD, nennt mehrere entscheidende Vorteile der neoadjuvanten Chemotherapie. Dieser Ansatz kann größere Tumore verkleinern, sodass Patientinnen statt einer Mastektomie eine brusterhaltende Lumpektomie erhalten können. Die meisten Patientinnen sprechen auf die neoadjuvante Chemotherapie an, was zu einer Tumorschrumpfung vor dem Eingriff führt. Aus Forschungssicht hebt Dr. Lippman den Wert von Gewebeproben vor und nach der Behandlung hervor. So lassen sich die Effekte auf Krebszellen direkt beobachten, was die Entwicklung neuer Therapien beschleunigt.
Bedeutung des pathologischen Komplettansprechens (pCR)
Das pathologische Komplettansprechen (pCR) ist ein entscheidender Meilenstein in der Brustkrebsbehandlung. Dr. Marc Lippman, MD, beschreibt pCR als das vollständige Verschwinden aller Krebszellen aus der Brust nach neoadjuvanter Therapie. Dieses Ergebnis variiert je nach Krankheitssubtyp, ist aber ein ausgezeichneter Prädiktor für das Langzeitüberleben. Patientinnen mit pCR benötigen nach der Operation meist keine weitere systemische Therapie. Dr. Lippman betont, dass dieses Ergebnis sowohl für die Prognose als auch für die Vereinfachung der Behandlung äußerst positiv ist.
Potenzial der neoadjuvanten endokrinen Therapie
Dr. Marc Lippman, MD, erörtert die wachsende Bedeutung der neoadjuvanten endokrinen Therapie bei Brustkrebs. Zwar sind Komplettremissionen seltener als bei Chemotherapie, doch könnte dies an einer zu kurzen Behandlungsdauer liegen. Aktuelle klinische Studien prüfen verlängerte Schemata von sechs bis acht Monaten. Dr. Lippman verfolgt diese Ergebnisse mit großem Interesse. Er vermutet, dass längere Behandlungszeiträume die Ansprechraten bei hormonrezeptorpositivem Brustkrebs deutlich verbessern könnten.
Vermeidung von Übertherapie bei älteren Patientinnen
Dr. Marc Lippman, MD, thematisiert das Problem der Übertherapie, besonders bei älteren Brustkrebspatientinnen. Er verweist auf eine wegweisende englische Studie mit Frauen über 80 mit ER-positivem Brustkrebs. Diese erhielten nur Tamoxifen – ohne Operation oder Strahlentherapie. Die Mehrheit starb an anderen Ursachen, was zeigt, dass die endokrine Therapie allein die Erkrankung ausreichend kontrollierte. Dr. Lippman befürwortet diesen konservativen Ansatz bei gebrechlichen älteren Patientinnen. Er weist darauf hin, dass sich das Ansprechen einfach durch Tastuntersuchung oder Bildgebung überwachen lässt.
Hin zu einem personalisierten Therapieansatz
Dr. Marc Lippman, MD, hinterfragt konventionelle Behandlungsparadigmen und plädiert für eine stärker personalisierte Brustkrebsversorgung. Er berichtet von frühen neoadjuvanten Studien am National Cancer Institute. Dort setzte man die Therapie fort, bis das beste Ansprechen erreicht war, statt feste Schemata zu verwenden. Die mediane Zyklenzahl bis zum besten Ansprechen lag bei fünf, doch viele Frauen benötigten 7–10 Zyklen. Dr. Lippman folgert, dass der optimale Ansatz darin bestehen könnte, die Behandlungsdauer an das individuelle Ansprechen anzupassen, statt Standardprotokolle strikt zu befolgen.
Vollständiges Transkript
Dr. Anton Titov, MD: Wie wählt man zwischen neoadjuvanten und adjuvanten Chemo- oder Hormontherapieprotokollen bei Brustkrebs? Sind die Protokolle identisch?
Man kann neoadjuvante Therapie – endokrin oder chemotherapeutisch – oder adjuvante Therapie einsetzen. Beides ist möglich. Randomisierte klinische Studien zeigen, dass neoadjuvante und adjuvante Therapie keinen Überlebensunterschied bei Brustkrebspatientinnen bewirken. Für das Überleben ist die Wahl also nicht entscheidend.
Dr. Marc Lippman, MD: Die neoadjuvante Therapie bietet jedoch viele Vorteile. Erstens kann sie größere Tumore verkleinern. So wird eine Patientin, die zunächst nicht für eine brusterhaltende Lumpektomie infrage kam, doch noch dazu befähigt. Fast alle Patientinnen sprechen auf neoadjuvante Chemotherapie an, und die meisten auch auf endokrine Therapie, sodass die Tumore schrumpfen.
Das zeigt, welche Therapie wirkt, und leitet die Behandlung nach der Tumorentfernung. Aus Forschungssicht ist die neoadjuvante Therapie faszinierend, weil man eine initiale Biopsie hat und nach Abschluss der Therapie weiteres Gewebe gewinnen kann. So sieht man direkt, wie die Behandlung auf den Krebs gewirkt hat. Das ist eine sehr valide Methode, neue Therapien zu entwickeln.
Es gibt das sogenannte pathologische Komplettansprechen (pCR). Je nach Subtyp können bei einigen Patientinnen nach neoadjuvanter Therapie alle Krebszellen in der Brust verschwinden – ein fantastisches Ergebnis. pCR ist ein hervorragender Prädiktor für das Überleben. Patientinnen mit pCR benötigen nach der Operation meist keine weitere systemische Therapie, was wunderbar ist. Neoadjuvante Therapie ist also sehr nützlich, um die Behandlung zu steuern.
Dr. Marc Lippman, MD: Dennoch gibt es derzeit keinen großen Überlebensvorteil, ob die Therapie vor oder nach der Operation gegeben wird. Neoadjuvante endokrine Therapie führt seltener zu Komplettremissionen, wohl weil sie nicht lange genug verabreicht wird. Jetzt laufen neue klinische Studien über sechs oder acht Monate, um die Wirkung längerer neoadjuvanter endokriner Therapien zu prüfen. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse.
Schließlich behandeln wir in den USA erstaunlicherweise oft über. Man sieht Brustkrebspatientinnen in ihren 80ern, gebrechlich und nicht bei bester Gesundheit. Und Ärzte reden über Mastektomie, Strahlentherapie und all das. Doch es gibt eine schöne Studie aus England für Frauen über 80 mit ER-positivem Brustkrebs. Sie erhielten nur Tamoxifen – keine Operation, keine Strahlung. Die Mehrheit starb an anderen Ursachen. Tamoxifen reichte also aus, um die Erkrankung zu kontrollieren, bis etwas anderes sie dahinraffte.
Ich plädiere dafür, gebrechliche ältere Patientinnen nicht überzubehandeln. Das ist im Grunde die ultimative neoadjuvante Studie: Man gibt die Therapie vor allem anderen und hört einfach nicht auf. Offensichtlich kann endokrine neoadjuvante Therapie sehr effektiv sein.
Zudem ist es einfach, den Verlauf zu verfolgen. Bei einem tastbaren Knoten genügen Daumen und Zeigefinger, um zu prüfen, ob es der Patientin gut geht, oder ein einfacher Bildgebungstest. Es besteht also kein Notfall.
Neoadjuvante Therapie bei gebrechlichen Patientinnen könnte sehr attraktiv sein, wird hierzulande aber wenig genutzt. England hat hier die Führung übernommen. Hier hat es noch niemand versucht.
Vor einigen Jahren – ich mag nicht sagen, wie vielen – entwickelten wir am National Cancer Institute, als ich das Brustkrebsprogramm leitete, erstmals neoadjuvante Therapie. Niemand wusste, wie man das macht. Also sagten wir zu den Frauen: Wir geben die Therapie, bis das beste Ansprechen erreicht ist, Zyklus für Zyklus. Solange wir messen können, was passiert, und der Tumor schrumpft, warum sollten wir aufhören?
Interessanterweise betrug die mediane Zyklenzahl bis zum besten Ansprechen in unserer Hand fünf. Das heißt, die Hälfte der Frauen benötigte 7–10 Zyklen neoadjuvanter Hormontherapie. Das war sehr lehrreich für die Brustkrebsbehandlung mit endokriner Therapie.
Ich glaube nicht, dass der beste Weg für neoadjuvante Therapie bereits vollständig identifiziert ist. Vielleicht sollte man sie eher am individuellen Ansprechen der Patientin ausrichten als an vorgefertigten Standardprotokollen.