Die Stammzelltransplantation bietet deutliche Vorteile für Patient:innen mit aktiver sekundär progredienter Multipler Sklerose (MS).

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In einer umfassenden Analyse von 79 Patienten mit aktiver sekundär progredienter Multipler Sklerose (SPMS), die sich einer autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation (AHSCT) unterzogen, im Vergleich zu 1.975 Patienten mit krankheitsmodifizierenden Standardtherapien, zeigte sich, dass die AHSCT das Fortschreiten der Behinderung signifikant verlangsamte. Die Transplantatempfänger wiesen ein um 50 % geringeres Risiko für eine bestätigte Verschlechterung der Behinderung auf. Nach 5 Jahren blieben 61,7 % der AHSCT-Patienten progressionsfrei, verglichen mit 46,3 % unter anderen Behandlungen. Besonders bemerkenswert: 34,7 % der AHSCT-Patienten zeigten nach 3 Jahren eine anhaltende Verbesserung der Behinderung, während dies nur bei 4,6 % der Patienten unter konventionellen Therapien der Fall war. Dies verdeutlicht einen dramatischen Unterschied im Potenzial für neurologische Erholung.

Stammzelltransplantation zeigt deutliche Vorteile für Patienten mit aktiver sekundär progredienter MS

Inhaltsverzeichnis

Einführung: Sekundär progrediente MS und ihre Behandlungsherausforderungen

Die sekundär progrediente Multiple Sklerose (SPMS) kennzeichnet eine Krankheitsphase, in der sich die neurologische Behinderung der Patienten schleichend verschlechtert – unabhängig von sichtbaren Schüben. Diese fortschreitende Zunahme der Behinderung beeinträchtigt die Lebensqualität und Alltagsfunktionen erheblich. Die genauen Mechanismen dieses Fortschreitens sind zwar noch nicht vollständig geklärt, doch deuten aktuelle Erkenntnisse auf eine anhaltende Entzündung im Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark) hin, die auch ohne Schübe weiterhin Nervenschäden verursacht.

Bisherige krankheitsmodifizierende Therapien (KMT) zeigten bei SPMS-Patienten nur begrenzte Wirkung. Selbst die wirksamsten Medikamente verzögerten in jüngsten Studien die Behinderungsprogression lediglich um etwa 19 Tage pro Jahr. Dieser moderate Effekt unterstreicht den dringenden Bedarf an wirksameren Behandlungsansätzen für diese Patientengruppe.

Die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation (AHSCT) hat sich als vielversprechende Behandlungsoption für aggressive MS-Formen erwiesen. Dabei werden die eigenen blutbildenden Stammzellen des Patienten entnommen, gefolgt von einer intensiven Chemotherapie, die das Immunsystem praktisch „zurücksetzt“. Anschließend werden die Stammzellen reinfundiert, um ein neues Immunsystem ohne die Autoimmunreaktionen aufzubauen, die die MS antreiben.

Studiendesign: Methodik und Durchführung

Diese italienische Multicenter-Studie verglich die Ergebnisse von 79 Patienten mit aktiver SPMS, die zwischen 1997 und 2019 eine AHSCT erhielten, mit denen von 1.975 SPMS-Patienten aus dem Italienischen MS-Register, die mit anderen KMT behandelt wurden. Trotz des nicht-randomisierten Designs sorgten ausgefeilte statistische Methoden für faire Vergleiche zwischen den Gruppen.

Eingeschlossen wurden Patienten, die ihre Behandlung nach der SPMS-Diagnose begonnen hatten, über baseline Expanded Disability Status Scale (EDSS)-Werte verfügten und mindestens eine Nachuntersuchung aufwiesen. Die Kontrollgruppe umfasste Patienten, die mit verschiedenen KMT behandelt wurden: Beta-Interferone (24%), Azathioprin (13%), Glatirameracetat (13%), Mitoxantron (11%), Fingolimod (9%), Natalizumab (7%), Methotrexat (6%), Teriflunomid (6%), Cyclophosphamid (6%), Dimethylfumarat (4%) und Alemtuzumab (1%).

Das Transplantationsverfahren beinhaltete die Mobilisierung von Stammzellen aus dem Blut mittels Cyclophosphamid plus Filgrastim. Die meisten Patienten (64 von 79) erhielten das BEAM-Konditionierungsregime (BCNU, Cytarabin, Etoposid und Melphalan) plus Antithymozytenglobulin (ATG), während andere je nach Arztentscheidung und Patientenprofil unterschiedliche Konditionierungsprotokolle erhielten.

Um Selektionsbias zu minimieren, kamen zwei statistische Methoden zum Einsatz: Propensity-Score-Matching (Erstellung vergleichbarer Gruppen basierend auf Patientenmerkmalen) und Overlap-Weighting (eine Methode, die alle Patienten einbezieht und statistisch für Unterschiede adjustiert). Berücksichtigt wurden Faktoren wie Alter, Geschlecht, Ausgangsbehinderung, Vorbehandlungen, Schubrate, Krankheitsdauer und Behandlungsbeginn.

Hauptergebnisse: Detaillierte Resultate und Statistiken

Die Studie zeigte deutliche Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen in mehreren Outcome-Parametern. Die signifikantesten Ergebnisse umfassen:

Behinderungsprogression

Die Zeit bis zur bestätigten Behinderungsprogression (confirmed disability progression, CDP) war bei AHSCT-Patienten signifikant länger. Die Hazard Ratio betrug 0,50 (95% CI: 0,31-0,81; p=0,005), was bedeutet, dass Transplantationsempfänger ein 50% geringeres Risiko für eine Behinderungsverschlechterung im Vergleich zu anderen KMT hatten.

Drei Jahre nach der Behandlung waren 71,9% der AHSCT-Patienten frei von Behinderungsprogression (95% CI: 58,5-81,5%) gegenüber nur 58,1% der Patienten mit anderen KMT (95% CI: 50,3-64,9%). Nach 5 Jahren vergrößerte sich diese Differenz weiter: 61,7% der Transplantationspatienten (95% CI: 47,5-73,1%) versus 46,3% unter konventionellen Therapien (95% CI: 37,4-54,5%).

Behinderungsverbesserung

Besonders bemerkenswert war die signifikante Behinderungsverbesserung bei AHSCT-Patienten. Die Verbesserungsrate lag bei Transplantationsempfängern 4,21-mal höher als bei anderen KMT (HR=4,21; 95% CI: 2,42-7,33; p<0,001).

Ein Jahr nach der Behandlung hatten 30,2% der AHSCT-Patienten eine messbare Behinderungsverbesserung erfahren (95% CI: 20,6-42,8%) gegenüber nur 3,4% unter anderen KMT (95% CI: 1,6-7,0%). Nach 3 Jahren hielten 38,8% der Transplantationspatienten eine Verbesserung aufrecht (95% CI: 28,0-51,9%) versus lediglich 7,8% unter konventionellen Therapien (95% CI: 4,6-12,7%).

Jährliche Schubraten

Die Schubraten waren bei AHSCT-Patienten deutlich niedriger. In den ersten zwei Nachbeobachtungsjahren betrug die annualisierte Schubrate (annualized relapse rate, ARR) in der Transplantationsgruppe 0,024 (95% CI: 0-0,051) verglichen mit 0,32 (95% CI: 0,24-0,39) in der anderen KMT-Gruppe. Dies entspricht einer 92,5%igen Reduktion des Schubrisikos (RR=0,075; 95% CI: 0,023-0,24; p<0,001).

Über den gesamten Nachbeobachtungszeitraum blieb die ARR bei AHSCT-Patienten signifikant niedriger bei 0,020 (95% CI: 0,006-0,034) gegenüber 0,45 (95% CI: 0,36-0,55) in der anderen KMT-Gruppe, was einer 95,6%igen Schubrisikoreduktion entspricht (RR=0,044; 95% CI: 0,021-0,091; p<0,001).

Behinderungsverlauf

Die longitudinale Analyse der EDSS-Werte zeigte deutlich unterschiedliche Verläufe zwischen den Gruppen. AHSCT-Patienten wiesen im Wesentlichen stabile Behinderungswerte auf mit einer geschätzten jährlichen EDSS-Veränderung von -0,013 Punkten (95% CI: -0,087 bis 0,061), was keiner signifikanten Progression entspricht. Im Gegensatz dazu zeigten Patienten mit anderen KMT eine klare Progression mit einer geschätzten jährlichen EDSS-Veränderung von +0,157 Punkten (95% CI: 0,117-0,196). Der Unterschied zwischen diesen Verläufen war hochsignifikant (p<0,001).

Klinische Bedeutung: Was die Ergebnisse für Patienten bedeuten

Diese Erkenntnisse haben erhebliche Auswirkungen auf die Behandlung der aktiven sekundär progredienten MS. Die Studie liefert die bislang stärkste Evidenz, dass AHSCT den Krankheitsverlauf der SPMS signifikant verändern kann – nicht nur durch Verlangsamung der Behinderungsprogression, sondern sogar durch Ermöglichung neurologischer Verbesserung bei einem beträchtlichen Teil der Patienten.

Für Patienten mit aktiver SPMS, die trotz konventioneller Behandlungen weiterhin Schübe oder MRI-Aktivität aufweisen, stellt AHSCT eine potenziell transformative Behandlungsoption dar. Die drastische Reduktion der Schubraten (über 90%) und die signifikante Behinderungsverbesserung bei mehr als einem Drittel der Patienten legen nahe, dass eine frühe Intervention mit AHSCT bei geeigneten Kandidaten irreversible neurologische Schäden verhindern könnte.

Die Stabilität der Behinderungsscores bei Transplantationsempfängern im Vergleich zur stetigen Progression unter anderen KMT deutet darauf hin, dass AHSCT eine langfristige Krankheitskontrolle bieten könnte, die über das hinausgeht, was mit currently verfügbaren Medikamenten erreicht werden kann. Dies ist besonders wichtig für SPMS-Patienten, die typischerweise trotz Behandlung einen graduellen Abbau erfahren.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass sieben Patienten (8,9%) in der Transplantationsgruppe zusätzliche KMT nach AHSCT benötigten, beginnend median 2,2 Jahre nach der Transplantation. Dies legt nahe, dass zwar die meisten Patienten von robusten und lang anhaltenden Vorteilen profitieren, einige dennoch zusätzliche Therapie benötigen könnten – was die Bedeutung fortgesetzter Nachsorge auch nach der Transplantation unterstreicht.

Studienlimitationen: Was nicht belegt werden konnte

Obwohl die Ergebnisse überzeugend sind, sind bei der Interpretation mehrere Einschränkungen zu berücksichtigen. Es handelte sich nicht um eine randomisierte kontrollierte Studie, sondern um eine Beobachtungsstudie, die Patienten mit unterschiedlichen Behandlungen verglich. Trotz ausgefeilter statistischer Methoden zur Minimierung von Selektionsbias könnten nicht erfasste Faktoren die Ergebnisse beeinflusst haben.

Die Studienpopulation war relativ klein (79 AHSCT-Patienten), und die Behandlung erfolgte über 14 verschiedene Zentren mit gewissen Variationen in den Transplantationsprotokollen. Während die meisten Patienten das BEAM+ATG-Regime erhielten, bekamen einige alternative Konditionierungsregimes, was die Outcomes beeinflusst haben könnte.

Für die meisten Patienten der Kontrollgruppe standen keine MRI-Daten zur Verfügung, daher konnten die Forscher die MRI-Aktivität nicht vollständig in ihren statistischen Adjustierungen berücksichtigen. Dies ist relevant, da MRI-Aktivität sowohl Behandlungsentscheidungen als auch Outcomes beeinflussen könnte.

Die Nachbeobachtungsdauer variierte zwischen den Patienten, und längerfristige Outcomes über 10 Jahre hinaus liegen noch nicht vor. Zudem konzentrierte sich die Studie speziell auf Patienten mit "aktiver" SPMS (diejenigen mit kürzlichen Schüben oder MRI-Aktivität), daher sind die Ergebnisse möglicherweise nicht auf Patienten mit nicht-aktiver SPMS übertragbar.

Schließlich könnten, wie bei allen Beobachtungsstudien, nicht erfasste Störfaktoren existieren, die sowohl die Behandlungsauswahl als auch die Outcomes beeinflusst haben und von den statistischen Methoden nicht vollständig berücksichtigt werden konnten.

Empfehlungen: Konkrete Ratschläge für Patienten

Basierend auf diesen Erkenntnissen sollten Patienten mit aktiver sekundär progredienter MS Folgendes in Betracht ziehen:

  1. Besprechen Sie AHSCT mit Ihrem Neurologen, wenn Sie an aktiver SPMS mit anhaltenden Schüben oder MRI-Aktivität trotz konventioneller Behandlungen leiden. Dies könnte besonders für jüngere Patienten mit aggressiverem Krankheitsverlauf relevant sein.
  2. Lassen Sie sich in einem spezialisierten MS-Zentrum mit Erfahrung in MS-Management und Stammzelltransplantation evaluieren, um zu klären, ob Sie für dieses Verfahren in Frage kommen.
  3. Machen Sie sich mit Risiken und Nutzen vertraut – Während AHSCT beeindruckend wirksam sein kann, birgt es signifikante Risiken wie Infektionen, Unfruchtbarkeit und andere behandlungsbedingte Komplikationen, die sorgfältig gegen die potenziellen Vorteile abgewogen werden müssen.
  4. Wählen Sie den Zeitpunkt der Intervention bedacht – Eine frühere Behandlung während der aktiven Phase der SPMS könnte die größte Chance bieten, irreversible Behinderungen zu verhindern.
  5. Bewahren Sie realistische Erwartungen – Während viele Patienten erhebliche Vorteile erfahren, variieren die Ergebnisse, und einige könnten dennoch zusätzliche Therapien nach der Transplantation benötigen.
  6. Nehmen Sie an regelmäßigen Nachsorgeuntersuchungen teil – Kontinuierliche Überwachung ist auch nach erfolgreicher Transplantation essenziell, um potenzielle Krankheitsreaktivierungen oder Spätkomplikationen frühzeitig zu erkennen.

Diese Forschung markiert einen wichtigen Fortschritt in der Behandlung der sekundär progredienten MS und bietet Hoffnung auf eine effektivere Krankheitsmodifikation, die über konventionelle Therapien hinausgeht. Wie immer sollten Behandlungsentscheidungen gemeinsam von Patienten und ihren Behandlungsteams auf der Grundlage individueller Umstände, Präferenzen und Risikotoleranz getroffen werden.

Quellenangabe

Originaltitel: Hämatopoetische Stammzelltransplantation bei Personen mit aktiver sekundär progredienter Multipler Sklerose

Autoren: Giacomo Boffa, MD; Alessio Signori, PhD; Luca Massacesi, MD; Alice Mariottini, MD, PhD; Elvira Sbragia, MD; Salvatore Cottone, MD; Maria Pia Amato, MD; Claudio Gasperini, MD, PhD; Lucia Moiola, MD, PhD; Stefano Meletti, MD, PhD; Anna Maria Repice, MD; Vincenzo Brescia Morra, MD; Giuseppe Salemi, MD; Francesco Patti, MD; Massimo Filippi, MD; Giovanna De Luca, MD; Giacomo Lus, MD; Mauro Zaffaroni, MD; Patrizia Sola, MD, PhD; Antonella Conte, MD, PhD; Riccardo Nistri, MD; Umberto Aguglia, MD; Franco Granella, MD; Simonetta Galgani, MD; Luisa Maria Caniatti, MD; Alessandra Lugaresi, MD, PhD; Silvia Romano, MD, PhD; Pietro Iaffaldano, MD; Eleonora Cocco, MD; Riccardo Saccardi, MD; Emanuele Angelucci, MD; Maria Trojano, MD; Giovanni Luigi Mancardi, MD; Maria Pia Sormani, PhD; und Matilde Inglese, MD, PhD

Veröffentlichung: Neurology 2023;100:e1109-e1122. doi:10.1212/WNL.0000000000206750

Hinweis: Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung der italienischen BMT-MS-Studiengruppe und des italienischen MS-Registers mit 79 AHSCT-Patienten (autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation) und 1.975 Patienten, die mit anderen krankheitsmodifizierenden Therapien behandelt wurden.