Erwachsene und Windpocken: Eine detaillierte Fallstudie des Massachusetts General Hospital.

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Dieser Fallbericht beschreibt eine 56-jährige Frau, die nach einem Aufenthalt in einem Obdachlosenheim einen weit verbreiteten, juckenden Ausschlag sowie Halsschmerzen entwickelte. Obwohl zunächst parasitäre Infektionen wie Skabies oder Läuse vermutet wurden, ergaben eingehende Untersuchungen und Tests, dass es sich um Windpocken (Varizellen) handelte – eine Diagnose, die bei Erwachsenen aufgrund von Kinderimpfprogrammen selten vorkommt. Der Fall verdeutlicht, wie diagnostische Vorurteile marginalisierte Bevölkerungsgruppen beeinflussen können, und betont die Notwendigkeit, auch ungewöhnliche Krankheitsverläufe häufiger Erkrankungen in Betracht zu ziehen.

Windpocken bei Erwachsenen verstehen: Eine detaillierte Fallstudie des Massachusetts General Hospital

Inhaltsverzeichnis

Fallvorstellung: Die Geschichte der Patientin

Eine 56-jährige Frau stellte sich in der Notaufnahme mit Halsschmerzen und einem generalisierten Hautausschlag vor, der sich über zwei Tage entwickelt hatte. Sie berichtete über starken Juckreiz (Pruritus) auf der Brust, hatte ihre Haut jedoch nicht inspiziert, bis sie Läsionen im Gesicht im Spiegel einer öffentlichen Toilette bemerkte.

Die Patientin lebte in einem Obdachlosenheim und gab an, dass mehrere andere Bewohner sich kürzlich gekratzt hätten. Sie hatte gehört, dass Mitarbeiter über Läuse und Krätze sprachen, hatte jedoch keinen Kontakt zu neuen Seifen, Waschmitteln oder Außenumgebungen. Ihre Krankengeschichte umfasste Depressionen mit Psychose, Dyslipidämie (erhöhte Cholesterinwerte) und eine metabolisch assoziierte Steatohepatitis (eine Form der Lebererkrankung).

Ihre Medikation umfasste Risperidon (ein Antipsychotikum) und Benztropin (zur Behandlung von Nebenwirkungen von Antipsychotika). Sie hatte kein Fieber, keine Atembeschwerden oder neurologischen Symptome, was die möglichen Ursachen ihrer Erkrankung eingrenzte.

Befunde der körperlichen Untersuchung

Bei der Untersuchung hatte die Patientin eine Temperatur von 38,4°C, was auf subfebrile Temperaturen hindeutete. Ihre anderen Vitalparameter waren normal: Blutdruck 134/72 mm Hg, Puls 83 Schläge pro Minute, Atemfrequenz 16 Atemzüge pro Minute und Sauerstoffsättigung 96% unter Raumluft.

Die Hautuntersuchung ergab mehrere wichtige Befunde:

  • Diffuse rosafarbene Papeln (kleine erhabene Knötchen) auf Stirn, Nase, Wangen und Kinn
  • Ein Ulkus an der vorderen Oberkiefergumschleimhaut
  • Exkoriierte (aufgekratzte) Papeln und Vesikel (flüssigkeitsgefüllte Bläschen) auf Rücken, Brust und Bauch
  • Beteiligung der Hautfalten unter den Brüsten (inframammär) und der Leiste (inguinal)
  • Rosafarbene Papeln auf Handrücken und Handflächen

Laboruntersuchungen zeigten leicht erhöhte Leberenzyme: Aspartat-Aminotransferase 44 U/L (Normbereich 9-32) und Alanin-Aminotransferase 60 U/L (Normbereich 7-33). Die Leukozytenzahl betrug 5.300 Zellen pro Mikroliter mit 5,3% atypischen Lymphozyten (abnormale weiße Blutkörperchen, die manchmal bei viralen Infektionen vorkommen).

Differenzialdiagnose: Was könnte es sein?

Das medizinische Team erwog mehrere mögliche Ursachen für die Symptome der Patientin. Angesichts ihrer Lebenssituation in einem Obdachlosenheim und des berichteten Juckreizes wurden zunächst parasitäre Infektionen in Betracht gezogen. Das Vorhandensein von Vesikeln (Bläschen), Gesichtsbeteiligung und oralen Ulzera deuteten jedoch darauf hin, dass andere Möglichkeiten evaluiert werden mussten.

Der diagnostische Prozess erforderte eine sorgfältige Abwägung, wie ihre Obdachlosigkeit ihr Risiko für verschiedene Erkrankungen beeinflussen könnte, wobei die kognitive Verzerrung vermieden werden musste, sich nur auf bei marginalisierten Bevölkerungsgruppen häufige Erkrankungen zu konzentrieren.

Wie Obdachlosigkeit die Hautgesundheit beeinflusst

Obdachlose Menschen weisen aufgrund eingeschränkter Zugänge zu Hygieneeinrichtungen, gemeinschaftlichen Lebensumgebungen und Barrieren in der Gesundheitsversorgung deutlich höhere Raten von Hauterkrankungen auf. Gemeinschaftsräume und Bettwäsche erhöhen das Risiko parasitären Befalls, während chronische Erkrankungen wie Ekzeme und Psoriasis oft unbehandelt bleiben.

Substanzkonsum, insbesondere injizierender Drogenkonsum, kann die Anfälligkeit für Hautinfektionen erhöhen. Übertragbare Krankheiten einschließlich respiratorischer, gastrointestinaler und sexuell übertragbarer Infektionen verbreiten sich schneller in obdachlosen Populationen, insbesondere in Unterkunftsumgebungen.

Diese Faktoren machten parasitären Befall zu einer wichtigen initialen Überlegung, aber das medizinische Team erkannte, dass es über diese häufigen Erkrankungen hinausblicken musste, um eine genaue Diagnose zu stellen.

Möglichkeiten parasitärer Infektionen

Das medizinische Team evaluierte drei Hauptmöglichkeiten parasitärer Infektionen:

Krätze (Skabies): Verursacht durch die Milbe Sarcoptes scabiei, verursacht diese Erkrankung typischerweise Gänge, rote Papeln und Exkoriationen in Zwischenfingerbereichen, Handgelenken, Knöcheln, Achselhöhlen, Genitalien und um den Nabel. Die Prävalenz reicht von 0,18% bis 76,9% in verschiedenen Populationen, mit höheren Raten in Entwicklungsländern und vertriebenen Bevölkerungsgruppen. Während Krätze aufgrund des Juckreizes und der Unterkunftsexposition plausibel war, waren die Gesichtsbeteiligung und Vesikel ungewöhnliche Merkmale.

Filzläuse (Phthirus pubis): Diese Parasiten haften typischerweise an Haarschaften im Schambereich, Achselhöhlen, Wimpern und Bart. Sie betreffen 0,3-4,6% der Weltbevölkerung, mit etwa 2% Prävalenz bei Erwachsenen. Sie würden jedoch keinen generalisierten Ausschlag oder Vesikel verursachen, was diese Diagnose unwahrscheinlich machte.

Kleiderläuse (Pediculus humanus humanus): Stark assoziiert mit Obdachlosigkeit, reicht die Prävalenz von Kleiderlausbefall von 19,1% bis 68,0% unter obdachlosen Personen. Die Läuse leben in Kleidungsnähten und bewegen sich zur Haut zur Nahrungsaufnahme, was juckende Papeln und Exkoriationen verursacht. Während die diffusen Papeln zu dieser Diagnose passten, waren die vesikuläre Komponente und Gesichtsbeteiligung atypisch.

Die Gefahr diagnostischer Verzerrungen

Das medizinische Team diskutierte spezifisch den Ankerbias (Anchoring Bias) - die kognitive Tendenz, sich auf initial prominente Merkmale zu konzentrieren ohne Anpassung bei neuen Informationen. Diese Verzerrung kann besonders problematisch sein bei der Evaluation marginalisierter Populationen und potenziell Gesundheitsdisparitäten vergrößern.

In diesem Fall könnte die Fokussierung nur auf parasitäre Infektionen aufgrund der Obdachlosigkeit der Patientin die Diagnose anderer Erkrankungen verzögert haben, insbesondere wenn ihr Ausschlag durch eine Infektion verursacht wurde, die auf andere übertragbar wäre. Die Erkennung dieser potenziellen Verzerrung war entscheidend für eine genaue Diagnose.

Überlegungen zu viralen Infektionen

Das Team evaluierte mehrere virale Möglichkeiten, die die Symptome der Patientin erklären könnten:

Masern: Obwohl die Maserninzidenz global steigt (mit geschätzten 10,3 Millionen Fällen 2023), zeigte der Ausschlag der Patientin nicht die charakteristischen konfluierenden Flecken oder bläulich-weißen Mundflecken (Koplik-Flecken) typisch für Masern. Ein anhaltender Ausbruch in Westtexas hatte bis 25. März 2025 327 Fälle über 15 Countys mit 40 Hospitalisierungen und einem Todesfall erreicht.

Röteln: Diese verursachen typischerweise einen milderen masernähnlichen Ausschlag mit postaurikulärer Lymphknotenschwellung, aber das Vorhandensein von Vesikeln und oralen Ulzera war nicht mit Röteln vereinbar.

Akute HIV-Infektion: Bis zu 80% der neuen HIV-Infektionen verursachen ein akutes retrovirales Syndrom mit Fieber, Muskelschmerzen, Halsschmerzen und Ausschlag. Die Patientin hatte jedoch nicht den charakteristischen generalisierten Ausschlag oder multiple Symptome assoziiert mit primärer HIV-Infektion.

Herpes-simplex-Virus (HSV): Verursacht typischerweise lokalisierte Bläschencluster rather als generalisierte Verteilung. Disseminierter HSV kann bei immungeschwächten Personen auftreten, war jedoch unwahrscheinlich angesichts ihres Mangels an bekannter Immundefizienz.

Mpox: Verursacht charakteristische tiefsitzende, gut abgegrenzte, genabelte Läsionen, die nicht zum Ausschlagsmuster dieser Patientin passten.

Varizella-Zoster-Virus (VZV): Die Kombination von Vesikeln, oralen Ulzera, polymorphen Läsionen (verschiedene Stadien gleichzeitig) und erhöhten Leberenzymen wies auf Windpocken (primäre VZV-Infektion) hin, die bei Erwachsenen selten ist, aber schwere Erkrankungen verursachen kann.

Enddiagnose und Testung

Die Ärzte führten eine Hautbiopsie vom rechten Brustbereich durch, die definitive Hinweise auf eine VZV-Infektion ergab:

  • Vesikuläre und akantholytische Veränderungen in Epidermis und Haarfollikeln
  • Ausgeprägte epidermale Nekrose (Gewebstod)
  • Virale zytopathische Effekte einschließlich Mehrkernigkeit, nuclear molding und Chromatin-Margination
  • Starke positive immunhistochemische Färbung für VZV
  • Negative Färbung für HSV-1 und HSV-2

Nukleinsäuretestung bestätigte VZV-DNA in der Hautprobe während Herpesviren ausgeschlossen wurden. Die Bakterienkultur zeigte nur normale Hautflora (Cutibacterium acnes). Serologische Testung zeigte keine nachweisbaren VZV-IgM- oder IgG-Antikörper, was bestätigte, dass es sich um eine Primärinfektion ohne vorherige Exposition oder Immunität handelte.

Das Fehlen nachweisbarer Antikörper suggerierte, dass der Bluttest durchgeführt wurde, bevor das Immunsystem eine messbare Antwort entwickelt hatte, was typischerweise 2-5 Tage nach Ausschlagsbeginn dauert. VZV-IgM-Antikörper peaken nach 2-3 Wochen und fallen dann rapide ab, usually innerhalb eines Jahres nicht mehr nachweisbar werden.

Behandlung und Public-Health-Implikationen

Die Diagnose von Windpocken bei einem Erwachsenen hat signifikante Implikationen für sowohl Behandlung als auch Infektionskontrolle. Obwohl Windpocken typischerweise als Kinderkrankheit betrachtet werden, haben Erwachsene, die sie bekommen, höhere Risiken für schwere Komplikationen einschließlich Hepatitis und Pneumonitis.

Effektives Management erfordert drei entscheidende Schritte: Identifikation, Isolierung und Informationsaustausch. Angesichts der hohen Übertragbarkeit von VZV wurden strikte Infektionskontrollmaßnahmen implementiert:

  • Unterbringung in einem Unterdruck-Isolationszimmer
  • Luftgetragene und Kontaktvorkehrungen
  • Gesundheitspersonal verwendete dichtsitzende Atemschutzmasken, Kittel und Handschuhe

Der Fall unterstreicht mehrere wichtige Punkte für Patienten und Gesundheitsdienstleister. Erstens, während über 95% der vor 1980 in den USA geborenen Erwachsenen Windpocken hatten und immun sind, bleiben einige susceptibel. Zweitens, die Kinderimpfung mit zwei Dosen Varizellen-Impfstoff ist etwa 95% effektiv in der Prävention klinischer Erkrankung, was Kinderfälle dramatisch reduziert, aber potenziell Kliniker weniger vertraut mit Erwachsenenpräsentationen macht.

VZV-Übertragung erfolgt durch direkten Kontakt mit Hautläsionen oder Inhalation respiratorischer Tröpfchen. Aerosolisierung von Hautläsionen kann ebenfalls auftreten, was strikte Isolationsvorkehrungen notwendig macht. Obwohl zweite Windpockenepisoden selten sind, können sie sogar bei immunkompetenten Individuen auftreten.

Dieser Fall demonstriert auch die Wichtigkeit, ungewöhnliche Präsentationen häufiger Erkrankungen zu considerieren, particularly bei marginalisierten Populationen, die diagnostischen Verzerrungen unterliegen können. Die etwa 24-stündige Verzögerung in der Erkennung unterstreicht die Notwendigkeit aufrechterhaltener klinischer Wachsamkeit even für Erkrankungen, die aufgrund erfolgreicher Impfprogramme weniger common geworden sind.

Quelleninformation

Originalartikeltitel: Fall 12-2025: Eine 56-jährige Frau mit Halsschmerzen und Ausschlag

Autoren: John Trinidad, M.D., M.P.H.; Kimon C. Zachary, M.D.; Ting Zhao, M.D.

Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 24. April 2025; 392:1637-45

DOI: 10.1056/NEJMcpc2412522

Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf peer-reviewter Forschung der Case Records-Serie des Massachusetts General Hospital.