Diese Fallstudie beschreibt einen 41-jährigen Mann mit einer 15-jährigen Epilepsie-Vorgeschichte, der während eines Krankenhausaufenthaltes schwere psychotische Symptome entwickelte. Die Diagnose verdeutlicht die komplexe Wechselwirkung zwischen Anfällen und psychiatrischen Symptomen, insbesondere wie Anfallshäufungen eine postiktale Psychose mit gefährlichen Verhaltensweisen auslösen können – darunter Aggression, Paranoia und Halluzinationen. Das Behandlungsteam stellte die Diagnose einer postiktalen Psychose, die nach der Rückkehr zur normalen geistigen Funktion nach Anfallshäufungen auftrat. Dieser Zustand betrifft etwa 7,8 % der Patienten auf Epilepsie-Überwachungsstationen.
Postiktale Psychose verstehen: Ein komplexer Fall anfallsassoziierter psychiatrischer Symptome
Inhaltsverzeichnis
- Hintergrund und Einleitung
- Fallvorstellung: Ein 41-jähriger Mann mit Anfällen und Agitation
- Krankengeschichte und initiale Symptome
- Klinischer Verlauf und Symptomprogression
- Diagnostische Untersuchungen und Bildgebungsergebnisse
- Differentialdiagnose: Abklärung möglicher Ursachen
- Wesentliche Befunde und endgültige Diagnose
- Klinische Implikationen für Patienten mit Epilepsie
- Risikofaktoren für postiktale Psychose
- Behandlungsansätze und Therapie
- Einschränkungen und Überlegungen
- Empfehlungen für Patienten und Angehörige
- Quelleninformation
Hintergrund und Einleitung
Dieser Fall aus dem Massachusetts General Hospital veranschaulicht die komplexe Beziehung zwischen Epilepsie und psychiatrischen Symptomen. Etwa 7,8 % der Patienten auf Epilepsie-Monitoring-Stationen entwickeln eine postiktale Psychose, bei der psychotische Symptome nach Anfällen auftreten. Patienten mit Epilepsie haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein achtfach erhöhtes Psychoserisiko, was dieses Thema für Patienten und medizinisches Personal gleichermaßen relevant macht.
Die bidirektionale Beziehung bedeutet zudem, dass Menschen mit chronischen psychotischen Störungen ein zwei- bis dreifach höheres Risiko haben, eine Epilepsie zu entwickeln. Dieser Fall zeigt, wie Anfallsaktivität psychische Symptome direkt beeinflussen kann und warum eine umfassende neurologische und psychiatrische Versorgung für Patienten mit therapieresistenter Epilepsie unerlässlich ist.
Fallvorstellung: Ein 41-jähriger Mann mit Anfällen und Agitation
Ein 41-jähriger Mann wurde aufgrund einer erhöhten Anfallsfrequenz auf die Epilepsie-Monitoring-Station (EMS) des Massachusetts General Hospital aufgenommen. Der Patient zeigte mögliche Anfallsaktivität bereits seit seinem vierten Lebensjahr, als seine Mutter Episoden von Starren und Nichtansprechbarkeit beobachtete. Im Alter von 19 Jahren war er in einen Einzelfahrzeugunfall verwickelt, bei dem das Auto überschlug, obwohl er sich an die Ereignisse nicht erinnerte und anschließend keine medizinische Untersuchung aufsuchte.
Vor etwa 15 Jahren erhielt er eine formelle Epilepsiediagnose, als er Episoden von linksseitigem Starren mit Nichtansprechbarkeit erlebte. Diese Anfälle begannen mit einem "schlechten Gefühl" in der epigastrischen Region (Oberbauch) und waren von Verwirrtheit, Agitation oder Schläfrigkeit gefolgt. Sein initiales Elektroenzephalogramm (EEG) zeigte bitemporale Sharp Waves, und die Magnetresonanztomographie (MRT) ergab eine mögliche Asymmetrie der Temporallhörner des Gehirns.
Krankengeschichte und initiale Symptome
Die fokalen Anfälle des Patienten traten wöchentlich auf und entwickelten sich zu generalisierten tonisch-klonischen Anfällen (Ganzkörperkrämpfen). Über 15 Jahre wurde er mit verschiedenen Antiepileptika in angepassten Dosierungen behandelt, erlitt jedoch trotz Therapie etwa einmal monatlich Anfälle.
In den drei Monaten vor der Aufnahme stieg seine Anfallsfrequenz trotz Medikamentenadhärenz auf bis zu dreimal monatlich an. Zu seinen verordneten Medikamenten gehörten:
- Carbamazepin
- Levetiracetam
- Topiramat
Vier Wochen vor der Aufnahme erlitt er fünf Anfälle innerhalb von zwei Wochen. Zwei Wochen vor der Aufnahme beobachteten Kollegen ein Zittern seiner Arme und Beine, was den Rettungsdienst veranlasste, ihn in die Notaufnahme eines anderen Krankenhauses zu bringen. Er erhielt ein Rezept für Diazepam gegen Schlaflosigkeit und wurde entlassen.
Klinischer Verlauf und Symptomprogression
Am Tag nach der Entlassung bemerkte der Neurologe des Patienten ihn auf seinem Arbeitsweg am Straßenrand taumelnd. Der Patient verhielt sich unberechenbar und reagierte nicht auf Fragen oder Aufforderungen. Die Polizei wurde gerufen, und der Patient versuchte wegzulaufen, bevor er festgehalten und in die Notaufnahme gebracht wurde.
Nachdem sich sein Verhalten und seine Verwirrtheit gebessert hatten, wurde er zur weiteren Abklärung auf die EMS verlegt. Am Aufnahmetag berichtete der Patient von Arbeitsstress und unzureichendem Schlaf, nahm jedoch seine Antiepileptika ein. Er beschrieb eine "Verschwommenheit" des Gedächtnisses für einige Tage nach jedem Anfall, behielt aber seine Arbeitsfähigkeit bei.
Während des Aufnahmegesprächs berichtete er, dass "etwas Seltsames passieren würde", erlebte verschwommenes Sehen und hatte nichtrhythmische Bewegungen in beiden Oberschenkeln bei erhaltenem Bewusstsein – Symptome, die nicht typisch für seine üblichen Anfälle waren.
Diagnostische Untersuchungen und Bildgebungsergebnisse
Die initiale MRT des Kopfes zeigte ein vermindertes Volumen des linken Hippocampus und Gyrus parahippocampalis mit erhöhter Signalintensität. Eine Ex-vacuo-Dilatation (Vergrößerung aufgrund von Gewebeverlust) des linken Temporallhorns war vorhanden, wahrscheinlich sekundär zum Volumenverlust. Die interiktale Positronen-Emissions-Tomographie (PET) zeigte eine subtile Reduktion der 18F-Fluorodesoxyglukose-Aufnahme im linken mesialen Temporallappen, was auf eine reduzierte metabolische Aktivität in dieser Region hindeutet.
Während des Krankenhausaufenthalts erfasste das kontinuierliche EEG-Monitoring fünf Anfälle mit Starren und subtilen Bewegungen in beiden Beinen von bis zu 3 Minuten Dauer. Die meisten elektroklinischen Anfallsereignisse stammten vom linken Temporallappen, während ein Ereignis vom rechten Temporallappen ausging, was auf bilaterale unabhängige Anfallsherde hindeutet.
Zwischen den Anfällen erlebte der Patient schwere Verhaltensänderungen, einschließlich Versuchen, EEG-Elektroden zu entfernen, Beißen und Treten von Klinikern, was Sicherheitseingriffe und Medikamentengabe erforderte. Später äußerte er paranoide Gedanken, glaubte, das Personal wolle ihn töten, und hörte akustische Halluzinationen von einer spielenden Tastatur.
Differentialdiagnose: Abklärung möglicher Ursachen
Das medizinische Team erwog mehrere mögliche Erklärungen für die Verhaltensänderungen des Patienten:
- Postiktale Agitation: Häufiger bei temporolimbischen Anfällen, typischerweise unmittelbar nach Anfällen ohne klares Intervall
- Nonkonvulsiver Status epilepticus: Kontinuierliche Anfallsaktivität ohne Krämpfe, aber durch kontinuierliches EEG-Monitoring ausgeschlossen
- Funktionelle oder nichtepileptische Anfälle: Psychologische statt neurologische Anfälle, aber der Patient hatte dokumentierte epileptische Anfälle im EEG
- Interiktale Psychose: Psychose zwischen Anfällen statt anfallsassoziiert
- Iktale Psychose: Psychose als direkte Manifestation von Anfällen, aber typischerweise kurz (20 Sekunden bis 3 Minuten)
- Postiktale Psychose: Psychose nach Anfällen nach Rückkehr zur normalen mentalen Funktion
- Forcierte Normalisierung: Paradoxe Normalisierung des EEG mit Auftreten psychiatrischer Symptome bei Anfallskontrolle
Wesentliche Befunde und endgültige Diagnose
Das medizinische Team diagnostizierte eine postiktale Psychose basierend auf mehreren Schlüsselfaktoren:
Die Psychose begann 16 Stunden nach Rückkehr zur normalen mentalen Funktion nach einer Serie von fünf fokalen Anfällen mit Bewusstseinsstörung. Der Patient hatte bilaterale unabhängige Anfallsherde (sowohl linke als auch rechte Temporallappen), dokumentiert durch EEG-Monitoring. Seine Epilepsieanamnese erstreckte sich über mindestens 15 Jahre (möglicherweise 22 oder 37 Jahre bei Zählung früher Symptome), was mit der typischen Zeitleiste für die Entwicklung einer postiktalen Psychose übereinstimmt.
Er zeigte charakteristische Symptome einschließlich akustischer Halluzinationen, Paranoia, Aggression und eigentümlicher Verbalisationen. Die Diagnose nach dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, fünfte Ausgabe, Textrevision (DSM-5-TR) war "psychotische Störung aufgrund einer anderen medizinischen Erkrankung (Epilepsie) mit Wahn".
Das Team bemerkte auch mögliche "Poriomanie" – eine spezifische Form des postiktalen Delirs mit Wandern und Amnesie – basierend auf seinem Verhalten des verwirrten Umherwandelns am Straßenrand vor der Aufnahme.
Klinische Implikationen für Patienten mit Epilepsie
Dieser Fall hebt mehrere wichtige Implikationen für Patienten mit Epilepsie hervor:
Psychiatrische Symptome können als direkte Folge der Anfallsaktivität auftreten, nicht nur als separate Erkrankung. Anfallsserien (mehrere Anfälle innerhalb kurzer Zeit) erhöhen das Risiko für postiktale Psychose signifikant. Medikamentenanpassungen, insbesondere schnelle Änderungen der Antiepileptika, können durch forcierte Normalisierung zu psychiatrischen Symptomen beitragen.
Patienten mit bilateralen Anfallsherden (Anfälle von beiden Gehirnseiten) haben ein höheres Risiko für psychiatrische Komplikationen. Die Zeitleiste für die Psychoseentwicklung umfasst typischerweise viele Jahre Epilepsie vor dem Auftreten psychiatrischer Symptome.
Risikofaktoren für postiktale Psychose
Basierend auf Forschung und diesem Fall erhöhen mehrere Faktoren das Risiko einer postiktalen Psychose:
- Therapieresistente Epilepsie, die nicht gut auf Medikamente anspricht
- Anfallsserien (mindestens drei Anfälle innerhalb von 24 Stunden)
- Männliches Geschlecht (postiktale Psychose ist bei Männern häufiger als bei Frauen)
- Anfallsdauer über 10 Jahre
- Erfahrung einer Aura (Warnempfindungen vor Anfällen)
- Bilaterale unabhängige Anfallsherde (Anfälle von beiden Gehirnseiten)
- Vorgeschichte früherer postiktaler Psychoseepisoden
- Familienanamnese von Psychose (obwohl in diesem Fall nicht vorhanden)
Dieser Patient wies alle diese Risikofaktoren außer Familienanamnese von Psychose auf, was ihn besonders anfällig für die Entwicklung einer postiktalen Psychose machte.
Behandlungsansätze und Therapie
Das medizinische Team setzte multiple Behandlungsstrategien ein:
Sie passten die Antiepileptika an, zunächst verringerten dann erhöhten sie die Carbamazepin-Dosierungen, stoppten und starteten Levetiracetam neu und wechselten schließlich zu intravenösem Lacosamid. Bei akuter Agitation verwendeten sie Antipsychotika einschließlich Haloperidol und Risperidon, plus Benzodiazepine (Lorazepam) gegen Angst und Agitation.
Bei autonomen Symptomen einschließlich erhöhtem Blutdruck (160/100 mmHg) und schnellem Puls (120 Schläge pro Minute) implementierten sie eine Labetalol-Therapie. Sicherheitsmaßnahmen umfassten temporäre Verwendung von Zwei-Punkt- und Vier-Punkt-Fixierungen während extremer Agitation zum Schutz von Patient und Personal.
Der Behandlungsansatz betonte, dass die Behandlung der postiktalen Psychose sowohl Anfallskontrolle als auch psychiatrische Symptomkontrolle gleichzeitig erfordert.
Einschränkungen und Überlegungen
Diese Fallstudie hat mehrere wichtige Einschränkungen:
Als Einzelfallbericht können die Ergebnisse nicht auf alle Patienten mit Epilepsie verallgemeinert werden. Der retrospektive Charakter bedeutet, dass einige Informationen unvollständig sein oder Erinnerungsverzerrungen unterliegen könnten. Die komplexen Medikamentenänderungen während des Krankenhausaufenthalts erschweren die Isolierung spezifischer Behandlungseffekte.
Die Möglichkeit funktioneller oder nichtepileptischer Anfälle neben epileptischen Anfällen konnte nicht vollständig ausgeschlossen werden, da etwa 20 % der Menschen mit medikamentenresistenter Epilepsie auch funktionelle Anfälle haben. Die lange Anamnese möglicher Anfallsaktivität seit der Kindheit macht die genaue Zeitleistenbestimmung herausfordernd.
Empfehlungen für Patienten und Angehörige
Basierend auf diesem Fall sollten Patienten mit Epilepsie und ihre Angehörigen:
- Verhaltensänderungen nach Anfällen überwachen, insbesondere nach Anfallsserien
- Neue psychiatrische Symptome (Paranoia, Halluzinationen, Aggression) umgehend dem Behandlungsteam melden
- Verstehen, dass Medikamentenanpassungen psychiatrische Symptome vorübergehend verschlechtern können
- Konsistente Kommunikation zwischen neurologischen und psychiatrischen Behandlern aufrechterhalten
- Sicherheitspläne für den Umgang mit Agitation oder Verwirrtheit nach Anfällen entwickeln
- Detaillierte Anfallstagebücher führen, die sowohl Anfallsaktivität als auch Verhaltensänderungen dokumentieren
- Eine umfassende Versorgung anstreben, die sowohl neurologische als auch psychiatrische Aspekte der Epilepsie berücksichtigt
Angehörige sollten besonders beachten, dass eine postiktale Psychose typischerweise nach der Rückkehr zur normalen mentalen Funktion nach Anfällen auftritt, nicht unmittelbar danach. Dieses freie Intervall kann von Stunden bis Tagen reichen, bevor psychiatrische Symptome auftreten.
Quelleninformation
Originaltitel des Artikels: Fall 37-2024: Ein 41-jähriger Mann mit Anfällen und Agitation
Autoren: Sheldon Benjamin, M.D., Lara Basovic, M.D., Javier M. Romero, M.D., Alice D. Lam, M.D., Ph.D., und Caitlin Adams, M.D.
Veröffentlichung: The New England Journal of Medicine, 28. November 2024, Band 391, Ausgabe 21, Seiten 2036-2046
DOI: 10.1056/NEJMcpc2402500
Dieser patientenfreundliche Artikel basiert auf begutachteter Forschung aus den Fallakten des Massachusetts General Hospital, veröffentlicht in The New England Journal of Medicine.